Manfred Overmann
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Fremdheitserziehung und Medienpädagogik: Apprendre et enseigner avec TV5 (Siegen 2000)

Inhaltsverzeichnis:

TV5 - Überblick, Grundsätze und pädagogische Begleitmaterialien
TV5 - Das Fremde als Katalysator des Eigenen und Anlass zur transkulturellen Kommunikation
Holistische Mediendidaktik der Authentizität und Aktualität
 

TV5 - Überblick, Grundsätze und pädagogische Begleitmaterialien

Der internationale französische Sender TV5 richtet sich über Kabel und Satellit (1) an eine halbe Milliarde Fernsehzuschauer auf fünf Kontinenten und strahlt rund um die Uhr eine Auswahl der besten frankophonen Sendungen aus Frankreich (France 2, France 3), Belgien (RTBF), der Schweiz (TSR), Kanada und Quebec (CTQC) sowie Afrika (CIRTEF) aus. Durch das Variationsspektrum der Ursprungsländer und die Vielfalt der dokumentierten Themen illustriert der Sender die multikulturelle Authentizität und Aktualität der Frankophonie weit über die Grenzen unserer unmittelbaren frankophonen Nachbarn hinaus.

Viele der Sendungen, die sich nicht nur thematisch, sondern auch wegen ihrer Kürze (flash d'info, clips chanson, images de pub) für einen Einsatz des Mediums Fernsehen im Fremdsprachenunterricht in besonderem Maße eignen, werden darüber hinaus durch pädagogische Arbeitsblätter und -anweisungen ergänzt, die kostenlos als Broschüre, per e-mail oder über die Internetstätte von TV5 bezogen werden können. Die unterschiedlichen Themen und Aktualitätsbezüge werden darüber hinaus durch zahlreiche Ergänzungen im Netz erweitert und in eine komplexe multimodale Lernumgebung einbezogen, die ein ganzheitliches, handlungs- und lernerzentriertes Fremdsprachenlernen in aktuellen Kommunikationssituationen ermöglicht.

Ein Internetforum bietet Lehrern die Möglichkeit, ihre Erfahrungen weltweit auszutauschen, und internationale Wettbewerbe laden Klassen dazu ein, ihre Sprachkompetenz gruppendynamisch, kreativ und adressatenorientiert anzuwenden. 1996 gewann eine Klasse des Max Born Gymnasiums den Wettbewerb Chantez. TV5 lud daraufhin den Lehrer zu einem Kongress der Fédération Internationale des Professeurs de Français nachTokyo ein und gestaltete mit der Schulklasse eine Reportage, die von TV5 wiederum weltweit ausgestrahlt wurde. 1997 erzielte das Gymnasium Albert Schweitzer aus Kassel unter 15.000 Schülern aus 450 Klassen, die sich aus 70 verschiedenen Herkunftsländern rekrutierten, den dritten Platz...

Die pädagogische Abteilung von TV 5 hat ein Handbuch mit dem Titel Apprendre et enseigner avec TV5 entwickelt, das speziell für Französischlehrer als Begleitheft zum Einsatz im Unterricht konzipiert wurde und kostenlos unter folgender Bezugsadresse erworben werden kann:

TV5 Paris
Dominique Martineau
19, rue Cognacq-Jay
F-75341 Paris Cedex 07
Téléphone: 00 33 1 44 18 55 90
Fax: 00 33 1 44 18 48 35
E-mail: [email protected]
Neben einer alphabetischen Auflistung und Beschreibung sowie thematischen Klassifizierung (Émissions d'actualité sur le cinéma, sur la francophonie, la mode, la publicité, la jeunesse; Émissions littéraires, culturelles, de société; Magazines; Journaux télévisés, etc.) der zur Zeit ca. 60 angebotenen Sendungen enthält das Handbuch auch 18 exemplarische Didaktisierungen im Umfang von zwei bis vier Seiten, welche die allgemeinen Lernziele und -inhalte der jeweiligen Sendungen sowie einen methodischen Verlaufsplan (Fiche d'exploitation pédagogique) darlegen.  Einige didaktische Leitbegriffe, die im Handbuch mit konkreten Inhalten und Aufgabenstellungen verbunden sind,  seien zur Veranschaulichung aufgeführt: Le concept de l'émission..., Le contenu..., Activités aux choix avant de visionner le générique / le journal..., Pour commencer..., Présentations..., Anticipations..., Avec le générique / l'extrait du reportage..., Avec le sommaire..., Hypothèses sur le contenu de l'émission..., Activités avec/sans le son..., Simulation du jeu..., Reconstitution..., Pour aller plus loin..., Prolongements..., Activités annexes..., Projet de classe, etc. - Natürlich enthält das Handbuch auch die technischen Daten über die Empfangsmöglichkeiten des Senders sowie die Verwendung der Teletexte.

Gemeinsam mit dem französischen Mediensprachenzentrum CAVILAM (Centres Audiovisuel de Langues Modernes), das sich auf Französisch als Fremdsprache spezialisiert hat, gibt TV5 des weiteren zwei kostenlose Newsletter heraus, die zum Ersten eines jeden Monats über e-mail verschickt werden. Interessierte Kollegen können die Informationsbriefe über die Internetstätte von TV5 abonnieren bzw. bei nicht vorhandenem Internetanschluss auch postalisch über die TV5-Repräsentanz in Deutschland erhalten:

TV5 - Deutschland
Imke Salzmann / Laurence Bervas
Schackstraße 2
D-80539 München
Tel.: (089) 380 179 24
Fax: (089) 380 179 11
E-mail: [email protected]
Abonnement per Internet unter: http://www.tv5.org
La lettre mensuelle de TV5 beinhaltet das jeweilige Fernsehprogramm mit Hinweisen und Erläuterungen zu bestimmten Sendungen sowie Informationen über Wettbewerbe und Spiele auf TV5. La lettre pédagogique du CAVILAM stellt den Lehrenden pädagogische Blätter zu besonderen TV5-Sendungen zum Einsatz im Unterricht zur Verfügung.

Über die Links der Internetstätte von TV5 haben  Lehrende und Lernende zudem Zugang zu folgenden Rubriken: La grille des programmes de la semaine, La grille de la semaine prochaine, À voir absolument, Images de pub, TV5 Magazine, TV5 Musique, Carnet d'adresses, Apprendre et enseigner, Présentation des émissions, Langue française, Fiches pédagogiques, Bibliographie,  Correspondances, Liste de diffusion, Forum de discussion et dialogues en direct (chat).

Schließlich möchten wir noch ein besonderes Augenmerk auf Funambule richten, eine seit Februar 1998 wöchentlich mittwochs um 8.30 Uhr ausgestrahlte Sendung von 26 Minuten Dauer, zu der TV5 über seine Internetstätte ein komplexes multimediales Dossier zur Informationsaufnahme, -verarbeitung und -bewertung mit Bildern, Videosequenzen und zahlreichen interaktiven Übungen mit Selbstevaluation zur Verfügung stellt. Funambule befindet sich wie Thalassa, Outremers oder Bons baisers d'Amérique unter der Rubrik der Émissions de découverte sur les régions du monde und baut sich peripher um einen zentralen Begriff der franzöischen Sprache auf, der durch Reportagen und Porträts über Länder, Völker und Personen aus der ganzen Welt facettenreich illustriert wird.

Die fünf bis sechs Unterthemen, die pro Sendung in netzwerkartiger Verbindung thematisiert werden, fokussieren sich immer auf konkrete, einfache Situationen, die den Beobachter auf seiner kulturellen, gesellschaftlichen oder geographischen Reise persönlich ergreifen sollen, um ihn nach Horazschem Vorbild sowohl zu unterhalten als auch zu belehren (delectare et prodesse).
 

TV5 - Das Fremde als Katalysator des Eigenen und Anlass zur transkulturellen Kommunikation

Seit den 80er Jahren wird die Fremdsprachendidaktik von der Diskussion um die Erfassung und Beschreibung von Interkulturalität, Transkulturalität, transnationaler und transkultureller Kommunikationsfähigkeit durchdrungen (Minuth 1997:201), und auch die neuen Lehrpläne für Französisch auf der Oberstufe tragen dieser Entwicklung, meistens gekoppelt an die Forderung nach Ausprägung von Medienkompetenz, Rechnung. Neben der zunehmenden Verschmelzung der Telekommunikationsmedien Radio, Fernsehen, Film, Video, e-mail und Telefon mit dem Computer bieten die zur Fremdheitserziehung eingesetzten und teilweise didaktisierten Fernsehsendungen von TV5, insbesondere durch ihre multimediale Verbindung mit dem Internet, eine unterrichtspraktische Synthese aus Medienpädagogik und interkultureller Erziehung.

Auf dem Hintergrund eigener individueller und kollektiver Sozialisationserfahrungen, die häufig als stereotypisierende Vorurteile den Zugang zum anderen Partner und seiner Kultur versperren (Minuth 1997:201), bieten die Sendungen von TV5 Anlässe zur Wahrnehmung, Interpretation und Wertung fremdkultureller Bedeutungen und werden somit zum Katalysator des Eigenverstehens, das sich in der Auseinandersetzung mit dem Fremden herausbildet. Die Fernsehsendungen in der Zielspache erweisen sich dadurch als eine Form der Begegnung mit dem Fremden in einer telekommunikativ zusammenrückenden Welt. Die Erfahrung des Anderen wird in der Auseinandersetzung mit dem Bekannten individuell erlebt, überprüft und vom beobachtenden Lerner subjektiv verarbeitet.

Genauso wenig wie Bücher Wissen enthalten, sondern lediglich Anlässe zur Wissenskonstruktion, transportieren auch Medien keine fertigen Informationen oder Bilder, sondern nur mustergeprägte Zeichenketten als konventionalisierte Anlässe für individuelle Sinnkonstruktion (Schmidt 1994:615). Wir wollen an dieser Stelle nicht die Positionen der erkenntnistheoretischen Kognitionstheorie des radikalen Konstruktivismus und ihrer didaktischen Implikationen für die Lerntheorie wiederholen (Overmann 2000a/b), betonen aber mit Schmidt die fundamentale pädagogische Möglichkeit der Instrumentalisierung der Medien für den intersubjektiven Kognitionsprozess. Die Relevanz der neuen Technologien für den Fremdsprachenunterricht (2) besteht gerade darin, individuelle Lernprozesse variationsreich anzuregen und zu fördern und die Gestaltung der Wissenskonstruktion durch Lernerzentriertheit zu erleichtern.

Dabei ist der Zugang zum Fremden und die individuelle Wirklichkeitskonstruktion nicht primär ein kognitives, sondern vielmehr ein emotionales Problem, das den Lerner in seiner Ganzheitlichkeit erfasst. Medien, die Möglichkeiten zur Wirklichkeitserfindung und Sinnproduktion darstellen, bieten den Lernern in permanenter Interaktion mit der Welt als Makroprozess der Sozialisation Anlässe, um ihre eigenen Wirklichkeitskonstruktionen zu viabilisieren, d.h. um Invarianzen zu entwickeln, die durch soziale Kontrolle auf ihre Kohärenz hin überprüft werden.

Das Fernsehen wird für die Lernenden zur Aufarbeitung von Fremdbildern instrumentalisiert, indem der Blick für das Fremde vor der eigenen Haustür geschärft wird. Es handelt sich darum, unsere Wirklichkeitsentwürfe immer wieder an denen anderer zu überprüfen, denn die Annäherung an das Fremde wird erst durch die Veränderung der eigenen Sozialisationsbiographie erreicht. Durch den Einsatz von authentischen Fernsehmaterialien in der Fremdsprache wird das Verständnis von anderskulturell sozialisierten Menschen in besonderem Maße gefördert, da die Reflexion über das Fremde rückbezüglich zur Veränderung der Einstellungen zur eigenen Kultur führt. Die Forderung nach Toleranz wird  letztlich durch die Sartresche Feststellung begründet, dass die Grenzen der Wahrheit in der Wahrheitskonzeption der Anderen liegen.
 

Holistische Mediendidaktik der Authentizität und Aktualität

Eine Sprache lernen bedeutet, ihr so oft wie möglich zu begegnen, und wenn nur eben möglich in authentischen Situationen. Es bedeutet, den Wunsch zu verpüren, neue Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, um sich dem Fremden und Unbekannten zu näheren (Boiron 1998:21).

Fernsehen im Unterricht, nicht verstanden als vorbereitungsarme Beschäftigungstherapie, passiver Konsum oder resignativer Einsatz zur Ruhigstellung verhaltensauffälliger Lerngruppen, fördert die Verlebendigung des Sprachenlernens durch die Veränderung der traditionellen Lernsituationen und fügt einen weiteren Legostein in Richtung auf die in der heutigen Didaktik geforderten Öffnung des Klassenzimmers hinzu. Die authentischen und aktuellen Materialien aktivieren durch ihre multiplen Anreizstrukturen nicht nur die Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung mit allen Sinnen, sondern durch vielfältige lernerorientierte Sprechanlässe auch einen produkt- und handlungsorientierten Unterricht.

Die Sendungen von TV5 lösen eine Reihen von Aktivitäten aus, die für die mündliche und schriftliche Kommunikation herangezogen werden können und sich an alle Lerner richten. Die Lernziele werden dabei nicht durch den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Sendungen festgelegt, sondern durch die pädagogischen Aufgaben, welche die Lerner mit den authentischen Materialien verbinden sollen. So kann zum Beispiel das gemeinsame Betrachten des Wetterberichtes, das Anfänger und auch viele Fortgeschrittene sprachlich völlig überfordern würd, zum Anlass genommen werden, um Zahlen, Länder oder Städte aus einem anderen Blickwinkel zu versprachlichen oder geographisch zuzuordnen.

Die erfolgreiche Integration kognitiver und affektiver Lehr- und Lernprozesse durch mehrkanaliges Lernen führt bei den Lernern zur Aktivierung von Lernkapazitäten, zu affektiver Resonanz, Interesse, innerer Beteiligung, Spannung und Motivation. Die Hyperthrophie eines rein kognitiv, grammatikalisch ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts, der nach Freudenstein auch heute immer noch vorzuwiegen scheint (1995:155), erfährt durch den Einsatz des Mediums Fernsehen daher zumindest phasenweise eine Korrektur.

Im Rahmen einer Didaktik der Aktualität und Authentizität fordert Dominique Martineau de transformer la classe en un lieu événementiel, de donner à la langue cible un véritabel statut de langue vivante, actuelle, en mouvement, présente dans les médias. (1998b:89) Der schulische Sprachwerwerb soll nicht länger nur ein Vorwand zum Erlernen von Lexik und grammatikalischen Strukturen sein, da die didaktische Segmentierung der Zielsprache zu einem demotivierenden Verlust an authentischer Situativität und sprachlicher Eindrucksvielfalt führen kann. Durch das Fehlen natürlicher Sprachnutzungsmuster in ausreichender Varianz und von Inhalten mit tatsächlicher sozialer Relevanz wird das Mitteilungsbedürfnis der Lerner nur wenig angeregt, der pragmatisch-funktionale sowie extraverbale Wissenserwerb bleibt gering und die demotivierende Asymmetrie von Redeanteilen bleibt bestehen. (Overmann 2000b)

Wir wollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lerner bei der Betrachtung einer Fernsehsendung breite Bereiche der sprachlichen Kommunikation nicht identifizieren können, allein mag sowohl die Intention ein Fehler sein, alles verstehen zu wollen, als auch der Glaube, dass in einer authentischen Kommunikationssituation die Nachricht des Senders primär verbal vermittelt werde. Im Gegenteil, beim Einsatz audiovisueller Materialien scheint die Fokussierung auf die Dekodierung der sprachlichen Zeichen eher ein Defizit darzustellen, da die nicht-verbalen, aber ebenso wesentlichen Informatonsträger (Kinetik)  wie Gestik, Mimik, Geräusche, Stimmen, Intonationen, Musik, Bewegung usw. kaum mehr wahrgenommen werden.

Nun ist aber nicht nur die verbale Sprache ein Medium sozialen Handelns, sondern alle anderen von einem Sujekt wahrgenommenen Faktoren erweisen sich ebenfalls als integrativer Bestandteil der kommunikativen Situation. Visuelle und auditive Signale in Form von Bildern oder Tönen sind nicht nur Komplemente der verbalen Äußerung, sondern konstituieren durch ihre Eigenart erst Verstehen. Darüber hinaus fördern sie in  Verbindung mit sprachlichen Zeichen in der  ganzheitlichen Kommunikation die Memorisierung von Wissen und steigern insbesondere problemlösende Kognitionsprozesse (3).

Das Fundamentum des audiovisuellen Konzepts basiert nach Boiron (1998:21) auf der Annahme, dass die linguistische Information in einer Kommunikationssituation nur einen geringen Anteil an der Botschaft einer Aussage hat und die Lerner daher auf jedem Sprachniveau mit authentischen audiovisuellen Materialien arbeiten können.

Die kommunikative Bedeutung der einzelnen Sinne wird sich jeder anschaulich vor Augen führen können, der einmal mit Grenouille durch Süskinds olfaktorisches Universum oder mit dem Musiker Johannes Elias Alder in Robert Schneiders Schlafes Bruder durch die Welt der Töne gereist ist. Warum sollte aber eine emotionale Neuorientierung des häufig zu kopflastigen Unterrichts sich nicht die Sinnenvielfalt der Lerner beim Sprachenlernen zu Nutze machen, um dem Fremden durch das verstehende Mineinander-in-Bezug-setzen von Bekanntem und Unbekanntem mit allen Sinnen zu begegnen, zumal das Plastizitätspostulat der neueren Gehirnforschung die Vernetzung der Gehirnhälften mit dem lymbischen System als Voraussetzung erfolgreichen Lernens statuiert hat.

Da der Lerner seine Welt selbsttätig aufbaut und keine fertigen Informationen in Form der Kübel- oder Trichterheorie perzipiert, wird das Lernen dort ansetzen, wo Neues und Altes durch Wiedererkanntes mit persönlichem Interesse in Verbindung treten können, um neue Wirklichkeiten zu konstruieren, d.h. neues Wissen an Vorwissen anzukoppeln. Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang die Konstruktion bedeutungshaltiger Bezüge zwischen Wiedererkanntem und Neuem.

Bei der Erstbegegnung mit einer Fernsehsendung wird der Lerner nur wenig des sprachlichen Materials wiedererkennen, allein die non-verbalen visuellen und auditiven Informationsträger werden im allgemeinen ausreichen, um emotionale Bezüge und damit Aufmerksamkeit für das Neue zu erzielen. Der lernende Zuschauer konstruiert den Sinn nicht durch einzelne Segmente, sondern durch das Netz der Verbindungen der einzelnen Wahrnehmungen.

Damit der Lerner sich nicht durch das relative Nicht-Verstehen der  verbalen Überflutung in der Zielsprache demotiviert vom Erlebnisgegenstand abwendet, muss bei der Didaktisierung von audiovisuellen Sequenzen darauf geachtet werden, dass die Wahrnehmungsrichtung sich zunächst nicht auf die Zielspache richtet, d.h. den am wenigsten vertändlichen Teil der Nachricht. Die Aufmerksamkeit des aktiven Rezipienten muss vielmehr auf alle anderen Sinnträger fokussiert werden, die es ihm auf der Grundlage seiner Vorkenntnisse ermöglichen, durch genaue Beobachtung, Kombinationsgabe, Antizipationstechniken, Hypothesenbildung, das Aufspüren von Bezügen und Zusammenhängen sowie der Interpretation der Bilder und Musik ganzheitlich Sinn zu konstruieren (4).

Die mit der nicht didaktisch gefilterten authentischen stofflichen Umwelt verbundene Komplexität darf nicht als Makel oder Obstakel gedeutet werden, sondern bietet in positivem Sinne nicht nur eine größere emotionale und assoziativ-individuelle Anknüpfungsmöglichkeit an Bekanntes, sondern auch vielfältigere Handlungsimplikationen für eine lebensbezogene Anwendung des Erfahrenen. Je anregungsreicher und polyvalenter sich eine Lernumgebung in ihrem Relationsbereich gestaltet, desto erfolgreicher und individueller wird sich der Lernprozess gestalten.

Der Lernende muss auf der Grundlage seiner aktuellen Vorkenntnisse und Weltsicht Mut zur Lücke entwickeln, um vom Vertrauten zum Neuen und vom Bekannten zum Unbekannten und Fremden vorzudringen. Dies kann er aber nur leisten, wenn das Nicht-Verstehen gelernt wird, nämlich der Verzicht darauf, die Komplexität im Detail verstehen zu wollen. Die einzelnen Filmsequenzen dürfen daher nicht bis ins Deteil analysiert und mit dem Anspruch auf vollständiges Verstehen verbunden werden. Wichtiger ist die systematische Heranführung und Auseinandersetung mit den lebendigen Ereignissen und das Training der Authentizität als Vorbereitung auf den Aufenthalt in frankophonen Ländern und die Begegnung mit dem Fremden. Nur wer sich zunächst auf eine solche  minimalistische Verstehensdidaktik einlässt, wird im frankophonen Ausland durch die Aufgabe eines falsch verstandenen Sprachperfektionismus genügend Pragmatismus und kinetische Kreativität entwickeln, um auf den Anderen zuzugehen und lebendig mit Fehlern zu kommunizieren.

Die audiovisuelle Wahrnehmung des Gebrauchs der fremden Sprache in authentischen Kommunikationssituationen fordert den Lerner in seiner ganzen Person, fördert die Anzahl mentaler Zustände, bereichert die semantischen Relationsstrukturen und koppelt das Sprachenlernen an reale Situationen. Das eigene Gefühl der Fremdheit muss durch authentische Medien in die Lernsituationen integriert werden, um in der Wechselwirkung mit anderen Kulturen das Fremde erlebend zu antizipieren und Interkulturalität als Prozess der eigenen Sozialisation zu erfahren.
 
 

Anmerkungen
/1/ Eutelsat II F 6, 13o Ost
/2/ Vgl. dazu die zweiunddreißig guten Gründe für den Interneteinsatz im Französischunterricht, in: Overmann 1999:208.
/3/ Über die Auswirkungen von räumlicher Bewegung und visueller Wahrnehmung in Verbindung mit Sprache vgl. Overmann 2000c.
/4/ Zur exemplarischen Didaktisierung einer Film- oder Videosequenz vgl. Overmann 2000d.

Bibliographie

Boiron, Michel (1998): Quelques idées simples pour apprendre et enseigner avec TV5, in: Martineau 1998a:21-24.

Freudenstein, Reinhold (1999): Der Fremdsprachenunterricht muß (immer noch) umkehren! In: Neusprachliche Mitteilungen 3:151-156.

Martineau, Dominique (1999): Apprendre et enseigner avec TV5: Nouveautés, in: Französisch heute 3:375-376.
- (Hrsg.) (1998a): Apprendre et enseigner avec TV5.
- /Boiron, Michel (1998b): Apprendre et enseigner avec TV5, in: Französisch heute 1:89-95.

Minuth, Christian (1997): Deine Muttersprache - Meine Fremdsprache. Ein Modell des Fremdverstehens, in: Meißner 1997:181-200.

Meißner, Franz-Joseph (Hrsg.) (1997): Interaktiver Fremdsprachenunterricht. Wege zu authentischer Kommunikation. Festschrift für Ludger Schiffler, Tübingen: Gunter Narr 1997.

Overmann, Manfred (1999): Lost in Cyberspace oder Gelehrsamkeit per Mausklick? Plädoyer für den Interneteinsatz in einem autonomeren Französischunterricht, in: Fremdsprachenunterricht  3:208-210.
- (2000a): Konstruktivistische Prinzipien der Lerntheorie und ihre didaktischen Implikationen, elektronische Veröffentlichung unter: http://www.ub.uni-siegen.de/ext/overmann/baf5/5e.htm/
- (2000b): Der Internetfremdsprachenunterricht als Paradigma einer konstruktivistischen Didaktik, elektronische Veröffentlichung unter: http://www.ub.uni-siegen.de/ext /overmann/baf5/5f.htm
- (2000c): Multimédia interactif et apprentissage multimodal, elektronische Veröffentlichung unter: http://www.ub.uni-siegen.de/ext /overmann/baf5/5h.htm
- (2000d): Travailler à partir d'une séquence vidéo ou d'un film. Claude Chabrol: Au coeur du mensonge, elektronische Veröffentlichung unter:  http://www.ub.uni-siegen.de/ext /overmann/baf4

Schmidt, Siegfried J. (1994): Konstruktivismus in der Medienforschung: Konzepte, Kriterien, Konsequenzen, in: Merten, Klaus u. a. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenachft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994:592-623.

Wendt, Michael (1997): Machen Medien Fremdes weniger fremd? Aspekte der Interaktion zwischen Massenmedien und ihren Benutzern, in: Meißner 1997:181-200.