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Konstruktivistische Prinzipien der Lerntheorie und ihre didaktischen Implikationen

Totum individuum
sua tota entitate individuatur
(Leibniz, De individuo)

Inhaltsverzeichnis:

Radikales Fragen oder didaktische Sophisterei zur Lerntheorie
Grundsätze der kognitiven Psychologie und Neurobiologie
Konstruktivistische Reflexionen über die Wirklichkeit
Zusammenstellung konstruktivistischer Essentials
Konsequenzen für die Lerntheorie
Die Trias Lernumgebung-Lerner-Lehrer
Bibliographie
 

Radikales Fragen oder didaktische Sophisterei zur Lerntheorie

Wenn die Maxime von David Little that all genuinely succesful learningis in the end autonomous (Little 1994:431) der Wahrheit entspricht, sind wir als Pädagogen nur dann erfolgreich, wenn diese Prämisse der Autonomie als conditio sine qua non erfolgreichen Lernens in unserem Unterricht Berücksichtigung findet. Da die meisten Lehrmeister ihren Unterricht, zumindest in Teilaspekten, für erfolgreich halten dürften, müßten wir schlußfolgern, daß die Autonomie in der Schule ein weit verbreitetes Prinzip zu sein scheint.

Diese Schlußfolgerung wagen wir allerdings, und sei es nur auf Grund unserer eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, zu bestreiten. Also ist entweder die Prämisse nicht richtig - welches bedeutete, daß nicht jedwedes, d.h. all genuinely learning auf Autonomie gründete und somit auch andere Grundsätze zu Lernerfolg führen könnten - , oder unsere Selbstevaluation ist falsch, daß unser Unterricht erfolgreich sei. Welcher Lehrer würde aber dieses von seinem Unterricht behaupten wollen. Lieber ziehen wir uns noch hinter die Ambiguität der Begriffe Autonomie und erfolgreich zurück, solange deren Definition noch als Desiderat aussteht.

Andererseits können wir nicht leugnen, daß es Kollegen gibt, die unsere direkte Unterrichtsmethode für wenig erfolgreich halten; meistens sind es gerade diejenigen, deren alternative Methoden wir in Frage stellen möchten. Denn während unsere Schüler unter nur leichtem und nahezu unauffälligem Druck alle zur gleichen Zeit mit der gleichen Methode im 45-Minuten-Takt das gleiche deklarativ-abfragbare Wissen erwerben, und zwar unabhängig von ihren partikulären Neigungen, Interessen oder sogar Launen, alle diszipliniert und aufmerksam die jeweils für ihren Kenntnisstand vorstrukturierten Inhalte und Übungen der Lehrbuchlektionen in immer gleicher Abfolge (input - Übung - output) sorgfältig bewältigen, nur sprechen, wenn sie dazu aufgefordert werden, im Ping-Pong-Verfahren auf unsere Lehrerfragen paßgenaue Antworten produzieren oder eine vordozierte Interpretation ziemlich genau rekonstituieren, werden diese Lernziele von manchen Kollegen, die dazu tendieren,  ihre Schüler die Lernziele, -inhalte und -progression selbst bestimmen oder mitbestimmen zu lassen, nicht einmal mehr intendiert.

Die Schüler würden in unserem Unterricht, so behauptet man,  fremdgesteuert und rezipierten oder reproduzierten passiv nur reaktives Wissen, welches eine Art Unwissen sei, da es mit keinerlei selbsttätiger Erkenntnis verbunden wäre. Sie plapperten papageimäßig nur nach, was wir ihnen vorgesprochen hätten und angeblich die Intention des Autors widerspiegelte, welche die Schüler nicht unbedingt beeindruckte, während ihre Schüler, so meinen wir, Interpretationen verfassen, für deren Verständnis der Lehrer einer Interpretationshilfe bedürfte oder weniger die Biographie des Autors als vielmehr den Lebenslauf der Schüler kennen müßte.

Genau bei diesen Kollegen, die ihre Schüler zum Fehlermachen auffordern und sich mehr für deren Wohlbefinden als den Lerngegenstand interessieren, gilt die vermeintliche Bildungsresistenz einiger aufmüpfiger oder verhaltensauffälliger Schüler als selbstbewußtes, selbständiges, selbstverantwortliches und kritisches Lernverhalten, so daß sich der Grad der Anpassung der Schüler an die tradierten Werte des Unterrichts als umgekehrt proportional zu ihrem Lernerfolg erwiese. Daraus ergäbe sich, daß nur der Schüler etwas lernte, der sich erfolgreich der instruktivistischen Lernerkonditionierung entzöge, da die präskriptive Steuerung und permanente Kontrolle des Schülers durch den Lehrer seine Autonomie und damit erfolgreiches Lernen be- oder sogar verhinderte.

Nur drängte sich bei diesem eher schüler- und subjektzentrierten Unterricht die Frage auf, was die Schüler noch lernten? Vielleicht das, was wir nicht intendierten? Lernen wäre dann ein arbiträres Produkt, das von außen nicht gesteuert werden könnte, weil der Schüler nur diejenigen Inhalte assimilierte, die ihn persönlich ergriffen.

Setzen wir rein hypothetisch den Fall, daß unsere Kollgen Recht hätten, wenn sie unsere altbewährte Wissenskonditionierungsmaschinerie als vermeintlich ideale Unterrichtsmethode kritisierten: Müßten wir dann nicht generell Zweifel daran hegen, ob Schüler überhaupt noch etwas Sinnvolles oder sogar Nützliches in einem formalen, durch Lehrpläne und Rahmenrichtlinien bestimmten Unterrichtskontext lernen könnten? Hätte unser Unterricht tatsächlich so wenig mit dem richtigen Leben gemeinsam wie die Kirchenmaus mit der christlichen Religion? Würden unsere Schüler tatsächlich mit der Einschulung zu Sklaven der Fremdbestimmung in einer Bildungsanstalt, die Selbstbildung durch Anhäufung von totem Wissen nur behinderte?

Wir wollen im Folgenden versuchen, den Begriff der Lernerautonomie und Wissenskonstruktion auf den Grundlagen kognitionspsychologischer und konstruktivistischer Ansätze positiv zu bestimmen, um anschließend zu reflektieren, wie die Lerntheorie einer konstruktivistisch orientierten Didaktik den Individuationsprozeß des Lerners als primäres Unterrichtsziel fördern kann.
 
 
 

Grundsätze der kognitiven Psychologie und Neurobiologie

Im Gegensatz zur behavioristischen Lerntheorie der klassischen Konditionierung (Pawlow, Skinner) als Reiz-Reaktions-Theorie, in welcher der rein passive Lerner als weißes Blatt durch Umweltreize beschrieben und durch steuerbare Stimuli zur Verhaltensänderung determiniert wird, beschreibt die kognitive Entwicklungstheorie Jean Piagets das Lernen als dynamischen, intra-personellen Konstruktionsprozeß des selbsttätigen Individuums.

Der Lerner braucht die Umwelt lediglich als Anregung und Matrix seiner Entwicklung, jedoch gehen die wesentlichen Impulse von ihm selber aus, weil er aktiv nach dem sucht, was ihm in seiner Umwelt zum Problem wird, um mit der Lösung des Problems Erkenntnis aufzubauen. Die kognitive Strukturbildung entsteht in der tätigen Auseinandersetzung des Subjekts mit den Erlebnisgehalten, die über die Umwelt vermittelt werden.

Im Sinne einer kumulativen Vervollständigung bezeichnet Assimilation nach Piaget den Versuch des Individuums, jede neue Interaktionserfahrung mit der Umwelt in eine bereits bestehende Verhaltensstruktur zu integrieren. Vorhandene Erfahrungsschemata werden aktiviert, um Informationen durch aktive Organisations- und Verarbeitungsleistungen des Individuums an bisheriges Wissen anzugleichen. Gelingt der assimilatorische Akt unter den gegebenen Wissensbedingungen nicht, kommt es im Erlebnisfeld des Subjekts zu einer kognitiven Widersprüchlichkeit. Da das Streben nach Homöostasie für Piaget eine grundsätzliche Lebensgesetzlichkeit darstellt, versucht das Individuum nun durch Akkomodation eine neues Gleichgewicht zwischen Organisums und Umwelt herzustellen.  Kognitive Assimilation, so Glaserfeld, kommt zustande, wenn ein kognitiv aktiver Organismus eine Erfahrung in die konzeptuelle Struktur einpaßt, über die er jeweils verfügt. (Glaserferld 1994:28) Wird das Ziel nicht erreicht, kann die sich ergebende Störung zu einer Akkomodation führen.(S.33)

Auf dem Weg zur optimalen Anpassung an die Umwelt kommt es zu einer ständigen Neuorganisation der vorhandenen und neu herausgebildeten Strukturen. Dabei schafft der Äquilibratonsprozeß nach Piaget einen Ausgleich zwischen Strukturerhaltung (Assimilation) und Umweltanpassung (Akkomodation) und ist die treibende Kraft hinter der kognitiven Aktivität des Individuums.

Die Sinneswahrnehmung des Menschen, so das Ergebnis der Recherchen der Kognitionswissenschaftler und Psycholinguisten der siebziger Jahre (Wolff 1994), bildet die Wirklichkeit nicht ontologisch-objektiv ab, wie sie an sich ist. Jedes Individuum konstruiert seine Wirklichkeit rein subjektiv, indem es die durch die Sinne aufgenommenen Informationen auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrungen und seines Weltwissens verarbeitet. Durch diesen informationstheoretischen Ansatz, daß jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit entwirft, die mit keiner anderen Wahrnehmung eines zweiten Individuums übereinstimmt, gelangte die kognitive Psychologie zu ihrer Grundthese, daß Wahrnehmung, Verstehen und Lernen gehirnphysiologische Konstruktionsprozesse der geistigen Operationen des tätigen Subjekts sind, das in seiner informationsaufnehmenden und -verarbeitenden Individualität einzigartig ist.

Zur gleichen Zeit wie die Kognitionspsychologie - und auf diese rekurrierend - entwickelte auch die Textlinguistik und Rezeptionsästhetik Verstehenstheorien, die das rezipierende Subjekt zum Prometheus der Texterschließung, verstanden als eigenständige Textkreation, erhoben (Overmann 1999b). Die Zusammensetzung der einzelnen Zeichen zu einem kohärenten Ganzen sowie die Konstruktion von Sinn werden vom aktiven Subjekt geleistet, das den Text aufgrund seines Erfahrungshorizontes neu und individuell erschafft. Der aktive Rezipient  wird zum Mitschöpfer bei  der Konstruktion seiner Fassung eines Kunstwerkes, das Umberto Eco zufolge dann als  offenes Kunstwerk bezeichnet werden kann, wenn es auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden kann, ohne daß seine irreduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt (Eco 1977:30).

Da menschliche Wahrnehmung auf individuell mentaler Sinnkonstruktion basiert, die neurophysiologisch im menschlichen Gehirn abläuft, kann Peschel behaupten, daß wir als lebende und denkende Organismen niemals mit der Wirklichkeit an sich umgehen, sondern es ausschießich mit jener Wirklichkeit zu tun haben, die wir über unsere Sinnesorgane erfahren, also unsere kognitive Realität, die wir aus den "Perturbationen" der Wirklichkeit (re)konstruieren. (Peschel 1990:11) Wirklichkeit existiert also nur subjektiv im Gehirn und alles Wahrgenommene ist ein Konstrukt unserer neuronalen Aktivitäten, die in einem geschlossenen System interagieren. (Peschel 1990:29)

Nun mögen die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Anschauungen durchaus zu neuen Begründungsverfahren geführt haben, allein die Erkenntnisse und auch die Zweifel, ob die Welt überhaupt erkannt werden kann, stammen schon aus der pyrrhonischen Skepsis, der philosophischen Hermeneutik und dauern bis zu den theoretischen Physikern der Gegenwart an. - Die Rezpetionsästhetik und das subjektive Verstehen als Nicht-Verstehen können wir von Humboldt über Schleiermacher und Gadamer (Overmann 1998) bis zum Dekonstruktivismus Derridas verfolgen, und die atomistische Abbildungstheorie der Griechen (Overmann 1993:32) und der daraus resultierende naive Realismus, der von einer Widerspiegelung der Wirklichkeit ausging, wurde schon von Platon im Höhlengleichnis in Frage gestellt.

Spätestens seitdem  Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft Raum und Zeit als Anschauungsweisen der menschlichen Erfahrung aus dem Bereich der absoluten Wirklichkeit in den der Phänomene zurückholte, sprechen wir von der Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie und damit von der Subjektivität der Wahrnehmung und der Unmöglichkeit der objektiven Erkenntnis des Dinges an sich. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten (...) Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten. (Kant, Kritik der reinen Vernunft, BXVI) Genau in diesem Kontext bemerkt Ernst von Glaserfeld: Wenn Zeit und Raum aber Koordinaten oder Ordnungsprinzipien unseres Erlebens sind, dann können wir uns Dinge jenseits der Erlebenswelt überhaupt nicht vorstellen, denn Form, Struktur, Ablauf von Vorgängen oder Anordnungen irgendwelcher Art sind ohne dieses Koordinatensystem im wahrsten Sinn des Wortes undenkbar (Glaserfeld 1991:23).
 

Konstruktivistische Reflexionen über die Wirklichkeit

Der Konstruktivismus rekrutiert seine Grundideen aus den Ergebnissen der Kognitionspsychologie und neurobiologischen Forschung und geht namentlich auf Denker zurück wie Heinz v. Foerster, Ernst v. Glaserfeld, Paul Watzlawick, Humberto Maturana, Gerhard Roth u.a., die über Wittgensteins These Diese Welt ist meine Welt philosophiert haben. Dabei lehnen sie übereinstimmend die für die traditionelle Erkenntnistheorie wesentliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ab sowie die auf Descartes zurückgehende Auffassung eines kausal-mechanizistisch funktionierenden Mikro- und Makrokosmos (Overmann 1993:131-148).

Auf die alte Frage, Was ist die Wirklichkeit  und Was ist erkennen antwortet Maturana (1997) mit seiner These, daß die Welt durch unsere Wahrnehmung mental konstruiert wird. Da es aber bei dem Wahrnehmungsvorgang zu einer Wechselwirkung zwischen Beobachter und Beobachtetem kommt, kann es keine vom Betrachter unabhängige objektive Welt geben. Das Bild entsteht im Auge des Betrachters, und dieser ist für seine Weltsicht, die eine mögliche Konstruktion unter vielen ist, verantwortlich.

Die Wirklichkeit ergibt sich demnach aus der kognitiven Konstruktion unseres Gehirns, das die Umwelt immer nur als Objekt eines Subjekts perzipiert, so daß die Wirklichkeit nicht ohne einen Beobachter, d.h. ein denkendes und erkennendes Wesen existiert. Nun dürfen wir nicht annehmen, daß die Außenwelt im solipsistischen Sinne Berkeleys (esse est percipi) gar nicht existierte, da das Gehirn sehr wohl von außen über die Sinnesorgane erregt wird und sich die Wirklichkeitskonstruktion interaktionell bewähren muß; allein diese Reize beinhalten keine bedeutungstragenden oder objektiven Informationen über die Welt. Die elektrische Aktivität der Rezeptorzelle - und im Grunde genommen aller Nervenzellen - codiert lediglich die Intensität der Erregung, die sich darin widerspiegelt, wie oft die Zelle feuert. Sie codiert jedoch nicht die Art und das Wesen der Erregung.(Segal 1986:127) Das Nervensystem, so Maturana, erzeugt keine Kognition. (1998:32) Das Gehirn erschließt erst durch den Vergleich und die Kombination der sensorischen Elementarerlebnisse anhand interner Kriterien eine rein subjektive Bedeutung, wobei die Nervenzellen lediglich die Intensität einer Erregung kodieren, nicht aber deren Art und Herkunft. Die Realität existiert also zwar bewußtseinsunabhängig und transphänomenal, erkenntnistheoretisch bleibt sie aber vollkommen unzugänglich (Roth, 1995:288, 321).

Was den erkenntnistheoretischen Standpunkt des Konstruktivismus anbelangt, so behauptet Roth, daß er sich zwangsläufig aus der Konstruktivität unseres Gehirns ergibt, das die Welt grundsätzlich nicht abbilden kann. Gehirne müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann. Dies letztere garantiert, daß die vom Gehirn erzeugten Konstrukte nicht willkürlich sind (Roth 1995:21).

Da die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, unsere Erfindung ist (Foerster 1999:40), müssen wir nicht nur Abschied von der Objektivität nehmen, sondern nach Glaserfeld auch das Verhältnis von Wirklichkeit und Wissen neu definieren (Glaserfeld 1999:19f.). Da Erkenntnis nicht mehr eine ikonische Übereinstimmung mit einer absoluten Wirklichkeit bedeutet, rückt nicht nur die Eigenverantwortung der Wirklichkeitskonstruktion und die Handlungsfähigkeit des Individuums in den Vordergrund, sondern es findet auch eine Einsicht in die Relativität des eigenen Erkennens statt, in die endlose Metamorphose von Interpretationen, die einander ablösen (Varela 1999:308). Die Aufgabe eines absoluten Wahrheitsanspruches  führt darüber hinaus nach Watzlawick zu einer Abkehr von jeglicher Doktrin oder Ideologie (Watzlawick 1999:192ff.)  sowie zu  größerer Toleranz und Pluralismus gegenüber anderen Wirklichkeitskonstruktionen. Im Konstruktivismus, der auf bestimmten Postulaten aufbaut, geht es nicht um Wahrheitsfindung oder einen objektiven Gültigkeitsanspruch, sondern um die logische Konsistenz und den praktischen Wert der Theorie, die so lange besteht, wie ihre Folgerungen nicht falsifiziert werden, d.h. in Widerspruch zum allgemeinen Prinzip treten.
 
 
 

Zusammenstellung konstruktivistischer Essentials

1. Der Konstruktivismus ist eine psychologische und philosophische Theorie der Wahrnehmung.
2. Wahrnehmung und Erkenntnis können von außen nicht steuernd beeinflußt werden.
3. Die Realität existiert nicht unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt und kann nicht objektiv erfaßt werden.
4. Es gibt keine Wirklichkeit ohne einen Beobachter, denn Denken und Erkennen sind nicht von demjenigen zu trennen, der denkt und erkennt.
5. Wir erkennen die Dinge nicht so, wie sie an sich sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen.
6. Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung. (Foerster 1999:40)
7. Die Realität selbst ist prinzipiell unerkennbar.
8. Der Aufbau von Wissen ist immer an die kognitiven Funktionen des Beobachters gekoppelt; Realität ist immer kognitive Realität.
9. Der Mensch ist ein autonomer, selbststeuerender, rekursiv organisierter und sturkturdeterminierter denkender Organismus, den Maturana als autopoietisch bezeichnet.
10. Im Sinne des radikalen Konstruktivismus steht der Mensch als geschlossenes, selbsterhaltendes System nicht in einer Ursache-Wirkung-Beziehung zur Umwelt.
11. Der Mensch ist zwar strukturell an die Umwelt angekoppelt und versucht durch die Aufrechterhaltung seiner zirkulären Organisation ein konstantes Equilibrium zu erhalten, um sein Überleben zu sichern, die Außenwelt hat aber keinen direkten monokausalen Einfluß auf den Kognitionsprozeß.
12. Die menschliche Wahrnehmung ist, ähnlich wie bei den kognitiven Verstehenstheorien, ein neuronaler Konstruktionsprozeß im Gehirn, der über die Sinnesorgane ausgelöst wird.
13. Die neuronalen Aktivitäten sind rein subjektbezogen und interagieren in einem geschlossenen System.
14. Der Mensch filtert als beobachtendes System die ihn perturbierenden wahrgenommenen Phänomene auf seine subjektgesteuerte Art und Weise und konstruiert seine ihm eigene kognitive Wirklichkeit durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation.
 
 
 

Konsequenzen für die Lerntheorie

Die durch den Konstruktivismus implizierten lerntheoretischen Grundsätze der Konstruktion einer Wissenserwerbstheorie scheinen zunächst im Widerspruch zu den Postulaten der didaktischen Vernunft zu stehen, welche die Wissensvermittlung traditionellerweise als Informationstransfer auffaßte. Wenn Wahrnehmung und Erkennen mentale Operationsprozesse sind, die vom Lernenden individuell auf der Grundlage seines Vorwissens realisiert werden, und wenn unsere Vorstellungen keine objektive Wirklichkeit wiederspiegeln, sondern entsprechend der neurobiologischen Auffassung nur die Eigenaktivität unseres Gehirns, das durch unspezifische Impulse der Umwelt gereizt wird, löst der Lehrende nur den Transport von Energien aus, welche die Gehirnaktivitäten anregen, aber niemals von bedeutungstragenden Informationen. Wissen bleibt nach Maturana als Erfahrung immer etwas Persönliches und Privates, das nicht übertragen werden kann. Das, was man für übertragbar hält, nämlich objektives Wissen, muß immer durch den Hörer geschaffen werden, der für das Verstehen (vor)bereit(et) ist. (Maturana 1998:22)

Die physikalische Beschaffenheit der Nervenimpulse ist gleich. Entscheidend ist, wo die Impulse landen. Kommen sie in der Sehrinde an, werden sie als "Bild" interpretiert. Kommen sie in der Hörrinde an, werden sie als Töne, Geräusche oder Sprache gedeutet. (Brügelmann 1997:180) Das außerhalb der Ursache-Wirkung-Beziehung liegende autopoietische System konstruiert im Gehirn immer nur mögliche Bilder von Welten, und es bleibt grundsätzlich offen, wie weit dieselben Reize von verschiedenen Beteiligten als gleich erlebt werden bzw. dieselbe Situation aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen zu individuellen kognitiven Strukturen verarbeitet wird - eine geradezu aporematische Erkenntnis für einen Lehrenden, der sein Wissen in die Köpfe der Lernenden übertragen wollte.

Unterricht darf nicht (mehr) als Transport von Wissen, sondern muß als Arrangement von Lernmöglichkeiten begriffen werden, so fordert Hans Brügelmann in seinem Aufsatz Offene Bedeutungen durch geschlossene Gehirne (1997:179). Die Lernumgebung erweist sich als entscheidend für die Wissenskonstruktion. Das Gerhirn errechnet im Rahmen des neurophysiologischen Mechanismus unserer Wahrnehumg aus der unstrukturierten Fülle der Nervenreize möglichst stabile, sinnstiftende Wirklichkeiten. Die Wirklichkeitskonstruktion ist dabei niemals objektiv, sondern wird von der mentalen Struktur des Lerners, seinen Wünschen und Erwartungen bestimmt.

Nun leugnet der Konstruktivismus nicht, daß es Formen der Beeinflussung gibt, die er Perturbationen nennt und die nicht inhaltsbestimmt sind, allerdings muß der Lerner willentlich eine Integration der Stimuli befürworten, damit äußere Faktoren assimiliert, d.h. in die autodeterminierte Struktur des Systems aufgenommen werden. Gehirnphysiologisch ist eine Beeinflussung oder Perturbation aber nur dann möglich, wenn das Individuum sie zuläßt, d.h. für sie offen ist. Erst dann wird die elektrische Aktivität der Rezeptorzellen in subjektbestimmte Vorstellungen verwandelt. Da jedes selbstlernende System die durch die Lernsituation erzeugten Perturbationen und die damit verbundene Zuschreibung von Sinn und Bedeutung unterschiedlich equilibriert, kann allerdings niemals eine genaue Lernzielangabe formuliert werden. Eine Theorie des Wissens oder vielmehr des Unwißbaren (Foerster 1997:14-32) müßte sich dieses Schwebezustandes bewußt sein, der durch die relative Unabhängigkeit des Endverhaltens von der Ur-Sache entsteht.

Nun will der Konstruktivismus dem Lehrer nicht vorschreiben, keine Instruktionen mehr zu geben; allein muß sich der Lehrer bewußt sein, daß er keinen objektiv steuernden Einfluß auf die Art und Weise hat, wie das autopoietische System des Lerners die Reize in sinngenerierende Vorstellungen umdeutet.

Der Lernende nimmt das Wirklichkeitsangebot unterschiedlich wahr, und jede Einwirkung auf den Lerner konvergiert auf dessen Eigenwert, der zu einer Stabilität des Systems tendiert. In bezug auf den Lernerfolg ist der Lehrer immer nur auf Hypothesen und Vermutungen festgelegt. Daher erscheint auch eine Lernzielkontrolle in Form einer Klassen- oder Kursarbeit, die an alle Schüler dieselben Erwartungshaltungen stellte, ein Widerspruch zur konstruktivistischen Lerntheorie, weil der jeweilige Input entsprechend den verschiedenen inneren Zuständen des Lerners und physiologischen Transformationen  unendlich viele Möglichkeiten des Outputs generieren kann. Aus diesem Grunde lehnen Maturana und Varela auch den Begriff der Information ab. Das Gehirn erhält in seiner operationalen Geschlossenheit über das Nervensystem keine inhaltliche Information, sondern einen neuronalen Reiz, den es selektiv und autonom umdeutet, verrechnet und quasi digital transformiert und auf seine Anschlußfähigkeit hin prüft.

Eine Evaluation, die nicht als Selbstevaluation oder Hilfe zur Selbstevaluation verstanden wird, ist aus konstruktivistischer Sicht nicht sinnvoll, da der Lehrer nicht bewertet, was der Lernende mental assimliert hat, sondern Defizite aufzeigt, die der Lerner vielleicht gar nicht assimilieren wollte. Die Erwartung der vorschriftsmäßigen Antwort des Lernersystems führt darüber hinaus nach Foerster zur Amputation interner Zustände und zur Blockierung der Entwicklung unabhängigen Denkens (Foerster 1993:145). Es scheint daher kognitionspsychologisch nicht nur fragwürdig, sondern geradezu ein Widersinn zu sein, eine subjektive Leistung objektiv für alle Schüler gleich nach festen Urteilskriterien bewerten zu wollen.

Die traditionelle gute oder schlechte Bewertung einer Klausurarbeit erlaubt lediglich die Schlußfolgerung, daß es dem Lehrer gelungen bzw. nicht gelungen ist, eine hinreichende Motivation der Schüler zum selbständigen Lernen zu bewirken, oder es besteht schlechthin eine Ankopplungsinkompatibilität zwischen Lehr- und Lernersystem, d.h. zwischen der Lernumwelt und dem autopoietischen System des Schülers. Im ersten Fall bewertete der Lehrer eher seine eigene Methodenkompetenz, im zweiten Fall sollte ein Klassen- oder Schulwechsel reflektiert werden.

Wenn tatsächlich in einer Prüfung nur die formulierten Erwartungshaltungen überprüft werden, prüft der Lehrer nur wie gut oder genau der Lerner etwas auswendig gelernt hat, nicht aber die Flexibilität des Prüflings. Foerster hält diese Art der Wissensabfrage für illegitim, zumal die Resultate im Grunde eher den Prüfer als den Kandidaten prüften (Foerster 1993:171). Wäre es nicht faszinierend, so exklamiert Foerster, sich ein Erziehungssystem vorzustellen, das die Erziehenden enttrivialisiert, indem es sie lehrt, 'legitime Fragen' zu stellen, d.h. Fragen, deren Antworten noch unbekannt sind? (Foerster, ebd.)

Wenn ein Lehrer versucht, einem Schüler etwas gegen dessen Willen beizubringen, wird dieser niemals etwas lernen. Das bloße Drücken der Schulbank hat noch nie einen Gelehrten hervorgebracht, es sei denn einen Brotgelehrten als Tintenfaß voller Gelehrsamkeit.

Primäres Ziel des Unterrichts sollte es sein, das autopoietische System zu perturbieren. Indem der Lerner sich mit den Stimuli der Außenwelt, die ihn bedrohen, weil sie sein System in Unordnung bringen, auseinandersetzt, wird die Anzahl der Aktivitäten der internen Zustände gesteigert und die semantische Relationsstruktur bereichert. Der Lerner versucht, seinen strukturdeterminierten Organismus wieder auf der Grundlage seiner Lebenserfahrungen neu zu equilibrieren, indem er einen sinnvollen, d.h. auf das Leben bezogenen Lebensentwurf konstruiert. Gelingt es nicht, die Unterrichtsgegenstände so zu präsentieren, daß der Lernende sich in Form einer inneren Perturbation ergriffen fühlt, prallen die Stimuli von ihm ab und können nicht an das System angekoppelt werden. Der Kognitionsprozeß findet nicht statt, und die Unterrichtsinhalte verlieren sich im Nichts.

Wissen kann also erst als gelernt gelten, wenn es vom Lernenden willentlich und intentional konstruiert und dadurch im Gedächtnis verankert wird, d.h. mit bereits vorhandemem Wissen vernetzt und die jeweils subjektive Bedeutung neu synthesiert wird, so daß das Gelernte für den Kommunikationsprozeß jeder Zeit verfügbar ist. Ansonsten bleibt das Erworbene totes Wissen - Treibgut im Gedächtnis, das im kommunikativen Bedarfsfall nicht funktioniert und leicht von anderen Gedächtnisbeständen überlagert oder weggeschwemmt wird. (Rück 1999:3) Nur was man sich selbst zu eigen macht, wird guter Besitz. (ebd.) Zur Wissenskonstruktion muß der Lerner eine intrinsische Motivation entwickeln, indem er sich ein persönliches Ziel vor Augen führt und einen sinnvollen pragmatischen oder affektiven Grund für seinen Lernprozeß erkennt.

Wenn wir darüber reflektieren, was wir einmal alles gelernt haben, müssen wir uns tatsächlich die Frage stellen, wo dieses Wissen verblieben ist. Es scheint sich aufgelöst zu haben, da es nicht mehr zur Verfügung steht, und dieses gilt für den allergrößten Teil unserer erworbenen Kenntnisse. Andererseits verfügen wir über eine Unzahl von Kenntnissen, die wir nie bewußt gelernt, aber assimiliert haben, da sie anscheinend für die Erhaltung unseres autodeterminierten Systems von Nutzen waren (Vecchi 1996:5).

Der Lerner begreift nur, was ihn in seiner Persönlichkeit ergreift, und es ergreifen ihn nur Gegenstände, die ihn in seinem Lebensumfeld als Herausforderung erschüttern. Der Unterricht besäße demnach die Aufgabe, den Lerner zu verunsichern, zu desequilibrieren,  indem er fragen stellte und Paradoxe aufdeckte, antstatt vermeintliche Antworten zu geben und Harmonie vorzutäuschen. Die Sinnkonstruktion wird durch den Zweifel, das Staunen, das Dionysische, das Fremde, das Weite und den Widersinn angeregt und nicht durch das Angebot und den Konsum von fertigen Weltbildern.

Kritikwilligkeit, Infragestellung sowie Ungehorsam und Revolte gehören also nicht zu den Disziplinsünden des Schulalltags, sondern sind ein Zeichen von Interesse und Neugier, Energie und positivem Konstruktionswillen, während blinder Gehorsam Indifferenz und Unselbständigkeit bedeuten können. Wir wollen unsere Schüler also nicht wie Gänse abfüttern, indem wir sie mit unserem Wissen sättigen und dadurch träge, unbeweglich, still und dumm machen, sondern wir wollen ihre Dynamik anregen, ihren Wissenshunger und Entdeckungsgeist, und sie im Spannungsfeld einer kompositionsreichen Arbeitsumgebung zur Wissenskonstruktion provozieren.
 
 
 

Die Trias Lernumgebung-Lerner-Lehrer

Wenn eine direkte, monokausale Fremdsteuerung und Lernerkonditionierung von außen nicht möglich ist, weil der Lerner nur das lernt, was er lernen will und mit seiner Autopoiese kompatibel ist, ist Freiheit die erste Voraussetzung für Wissenskonstruktion und die Mannigfaltigkeit oder Komplexität der Lernsituationen die zweite. Unter Komplexität verstehen wir die Totalität der Interaktionen zwischen den Elementen eines gegebenen Systems. Je komplexer also die Lernumgebung, desto reicher und anregender die Verbindungen, die der Lerner selbsttätig eingehen kann, um sich zu bilden. Daher fordert Foerster in seinem ethischen Imperativ, daß man stets so handeln solle, daß weitere Handlungsmöglichkeiten entstehen. (1999:60)

Eine Pädagogik der Komplexität befreit den Lerner aus der Zelle eines ihn auf eine gleiche Einheit reduzieren wollenden Fachdenkens und öffnet das Klassenzimmer auch in der Perspektive eines fächerübergreifenden Lernens, das die Vielfalt der Themen und Aufgaben in einem wirklichkeitsbezogenen System vernetzt und das Vorstellungsvermögen und Denken der Lerner zur Sinnkonstruktion anregt.

Dumpfheit, Phantasielosigkeit, Monotonie, Gleichgültigkeit, Sicherheit und Uniformität müssen also durch Kreativität, Forscher- und Erfindungsgeist sowie Problembereitschaft ersetzt werden. Wir servieren weder Essen für Gäste noch Rezepte für  Köche, sondern stellen nur Nahrungsmittel zur Verfügung, die jeder nach seinem Geschmack selbsttätig und aktiv zusammenfügen und zubereiten muß.

Nicht Einheit und Konformität, sondern Multiplizität und Divergenz werden gefordert, um den lebendigen Geist des Lerners zu sich selbst zu führen. Dabei ist der Einzelne mit dem Ganzen verbunden und spiegelt die Welt von seinem Standpunkt aus. Da er mit allen interagiert, wirkt auch alles auf ihn in Form einer Retroaktion oder Informationsschleife zurück und bewirkt dadurch einen Prozeß der Autoformation und Autoorganisation, so präsumiert Edgar Morin in seinen philosophischen Reflexionen zur Komplexität (Morin 1995).

Der Lerner, den wir nicht als tabula rasa, sondern als energeia oder autopoietisches Potential, d.h. autonome Kraft eines selbsttätigen, selbststeurenden Subjekts im Sinne einer Monade in konstruktivistischem Gewand definieren, soll die Totalität seiner Kräfte in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Lernwelten konstruieren. Die Selbstkonstruktion im Individuationsprozeß setzt dabei nicht nur Freiheit voraus, sondern auch die Möglichkeit des produktiven Einsatzes derselben in der Interaktion mit anderen, da Autonomie ohne Wechselwirkung mit der Welt im Autismus mündet. Die Essenz der Lernerautonomie besteht in der Selbstkonstruktion als Emanation der eigenen Kraft im Wechselspiel mit anderen Systemen. Sie setzt eigene Initiative, Selbstverantwortung für das Lernen, rekursive Selbstevaluation und das Lernen des Lernens als notwendige Bedingung ihrer Verwirklichung voraus. Tätig wird das Subjekt nicht unter Druck, der eine Ankopplung an das autopoietische System vielmehr verhindert, sondern durch die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Lernsituationen, die die Neugier und das Interesse des Lerners stimulieren und die zum Lernen notwendige Lust und Grundmotivation hervorrufen.

Dabei darf bzw. soll das Lernen durchaus mit Anstrengung verbunden sein, aber nicht im Sinne einer blinden Mühe, sondern einer Herausforderung zur sinnvollen Bewältigung einer Lebenssituation. Wenn der Lernende den Nutzen des Lerngegenstandes für seine Weltkonstruktion erkennt, wird er seine Kräfte freiwillig mobilisieren, um sich auf eine Lernreise einzulassen, die sowohl Freuden, Erfolge und Überraschungen als auch Hindernisse, Beschwernisse und Enttäuschungen mit sich bringt.

Es kann sich nicht darum handeln, den Lernprozeß steuern oder kanalisieren zu wollen, welches nach konstruktivistischer Auffassung auch gar nicht möglich wäre, sondern darum, durch die Gestaltung einer positiv-anregenden Lernumgebung einen Selbstlernprozeß zu initiieren, die den Lernenden zum eigenen Baumeister seines Wissens erhebt. Die Lernwelt sollte daher über ein relevantes Maß sinnstiftender Anschlußmöglichkeiten verfügen, die eine Vielzahl möglicher Konstruktionen zulassen.

Zur Lernumgebung gehört der gesamte unterrichtliche Kontext, angefangen mit der Gestaltung des Klassenzimmers, über die Versorgung mit komplexen Materialsammlungen und Medien bis hin zur Einrichtung einer Lernwerkstatt mit möglichst authentischen und aufgabenorientierten Angeboten, um ein individuelles Lernen an Stationen zu ermöglichen, denn der Lernende, in eine arme und monotone Lernwelt versetzt, bildet sich minder aus.

Authentische Materialien sprechen den Lerner in ihrer inhaltlichen Komplexität als ganzen Menschen an, d.h. Kopf, Herz und Hand, da sie nicht in einer didaktischen Reduktion a priori auf die vermeintliche Ausprägung von Teilkompetenzen hin gefiltert sind. Sie sind von vornherein mehrdeutig und vielschichtig und durch ihre prinzipielle Pluralität und Offenheit das genaue Gegenteil einer didaktisch-monistischen Unifikation.

Beim selbständigen Experimentieren mit praxisbezogenen Aufgaben konstruiert der Lerner eigenständig über den Umgang mit der verschiedenen Relationalität der Elemente und die persönliche Relevanz der Inhalte, die er exploriert, eine neue individuelle autopoietische Kohäsion, die das Wissen erst operationell macht. Die Sinnkonstruktion entsteht also dadurch, daß es dem Lerner gelingt, zwischen den einzelnen symbolträchtigen Zeichen, denen kein Sinn an sich inhäriert, neue Verbindungen zu synthetisieren, die er an sein System ankoppelt, indem er eine Referenz und Vernetzung zu seinem Erfahrungs- und Wirklichkeitsfeld herstellt.

Voraussetzung ist, daß sich der Lerner persönlich in die Lernsituation impliziert fühlt und die neuen Elemente nicht so fremd sind, daß keine Berührungspunkte gefunden werden können. Der Unterrichtsgegenstand muß den Lerner in seinen Problemen, Bedürfnissen und seinen sozialen Interaktionen direkt tangieren, da er nur auf Fragen antworten kann, die er sich selber stellt.

Lernen bedeutet nicht sukzessives Hinzufügen oder Addieren von Kenntnissen, nicht Nachvollziehen oder Wiederholen von Erklärungsmustern, sondern permanentes Umformen, Modifizieren, Komplexifizieren und die Erfindung von neuen Erklärungsmodellen. Die Wissenskonstruktion ist nicht ergebnis-, sondern prozeßorientiert und bleibt immer vorläufig, da sie einer ständigen Veränderung untersteht. Denn kann nicht auch die Wahrheit immer nur ein asymptotisches Streben sein? Der Lerngegenstand wird im Unterricht neu modelliert, indem eine gewisse Fusion zwischen Objekt und Subjekt stattfindet und die Lehrinhalte mit dem Geist des Lerners verschmelzen. Lernen bedeutet in diesem Sinne, aus einem Gegenstand etwas anderes zu machen, indem man von sich selber etwas hinzufügt.

In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Freinet-Pädagogik wieder an Bedeutung, da der Lernende erst durch den Kontakt mit den anderen in der Interaktion der Gruppe dazu gelangt, seine eigenen Hypothesen über die Umwelt zu experimentieren und zu validieren. Tatsächlich ist der Prozeß der Hypothesenbildung von eminenter Bedeutung, da selbstbestimmtes Lernen über die Formulierung und Überprüfung von Vermutungen stattfindet und nur durch wechselseitige Kommunikation mit einem Gegenüber die notwendigen konsensuellen Bereiche geschaffen werden können.

Einzig in der kreativen Auseinandersetzung mit einem Du können wir unsere Wirklichkeitskonstruktionen relativieren und durch konsensuelle Welten unsere fundamentale Einsamkeit überwinden. Als lebende Systeme, so schreibt Maturana, existieren wir in vollständiger Einsamkeit innerhalb der Grenzen unserer individuellen Autopoiese. Nur dadurch, daß wir mit anderen durch konsensuelle Bereiche Welten schaffen, schaffen wir uns eine Existenz, die diese unsere fundamentale Einsamkeit übersteigt (...) Wir können uns nicht sehen, wenn wir uns nicht in unseren Interaktionen mit anderen sehen lernen und dadurch, daß wir die anderen als Spiegelungen unserer selbst sehen, auch uns selbst als Spiegelung des anderen sehen (Maturana 1987:117).

Die Form der Bearbeitung der Unterrichtsgegenstände ist dabei von sekundärer Bedeutung, da es sich nicht primär um die Entwicklung von Fehlervermeidungsstrategien handelt, sondern um die Erschließung inhaltlich-kultureller Aspekte für den Kommunikationsprozeß. Die Schüler können an der Gestaltung unterschiedlicher Lernstationen mitwirken, indem sie Materialien zur Verfügung stellen oder mit und für andere aufarbeiten. Das Lernen an Stationen überläßt dem Schüler darüber hinaus die Möglichkeit, operationell zu entscheiden, wann er sich mit welchen thematischen Modulen beschäftigen möchte.

Der neugierige Handlungsreisende verhält sich wie ein Forscher, der eine empirisch-induktive Versuchsreihe zur Verifikation einer These aufstellt oder zur Bewältigung eines Problems: Er artikuliert zunächst genau die zu lösende Aufgabe, dann sucht er Materialien und Dokumente, formuliert Hypothesen zur Lösung von Problemen oder zur Aufdeckung von Ursachen, stellt Versuchsreihen an, analysiert, synthetisiert  und gelangt schließlich zur Verifikation oder Falsifikation seiner Arbeitshypothese, die er nunmehr annimt oder verwirft.

Dabei entwickelt der Lerner unterschiedliche Strategien zur Problembewältigung und Einteilung des Lernprozesses, die vom Überblick über das Problemfeld über die Materialsammlung und -strukturierung zur zeitlichen Organisation der einzelnen Arbeitsschritte führen und ein prozedurales Lernverhalten für das Leben entwickeln, das sich an kommunikativen Sprachhandlungen, sozialer Interaktion, strategischer Kompetenzentwicklung und pragmatisch-kulturellem Wissen orientiert.

Der Rotationspunkt des Unterrichts ist der Schüler und nicht der Lehrer, der in einem Minimum an Zeit ein Maximum an Stoff loswerden muß und seinen Unterricht demgemäß strukturiert. Zwar steht der Lehrer auch weiterhin für die Gestaltung der Rahmenbedingungen in der Verantwortung, aber der Lerner formuliert seine Lernschwierigkeiten und stellt aus eigenem Antrieb echte Wissensfragen, die der Lehrer ihm zu beantworten hilft, indem er ihn bei der Ursachenforschung der Lernprobleme unterstützt und mögliche Wege zur Überwindung anregt. Der Lehrer präsentiert also kein Resultat, sondern einen Weg zur Selbstlernkompetenz, der die Lerntechniken und Lernstrategien des Schülers in einem authentischen Sachbezug mit wirklichem Interesse am Gegenstand erweitert.

Wissenskonstruktion ist nur möglich, wenn der Lerner einen realen und persönlichen Sinnbezug zum Unterrichtsgegenstand entwickeln kann. Geschieht dieses nicht, ergeben die Lehrinhalte keinen Sinn und können nicht als gelernte Inhalte assimiliert werden. Die Demotivation des Lerners findet in der Sinnlosigkeit des Lerngegenstandes ihre häufigste Ursache und die Faulheit des Lerners in einer reizarmen, anesthesierenden Lernumgebung, die jegliche Neugier abtötet und Freude und Spaß als Störung maßregelt, weil sie als suspekt erscheinen.

Die didaktische Kopernikanische Wende, die durch den Konstruktivismus impliziert wird, stellt den Lerner ins Zentrum der Lernwelten und extrapoliert den Lehrer in eine Fluchtbahn, die den Schüler satellitenhaft umkreist, um ihm als facilitator, classrom manager, animateur, scénariste, metteur en scène, organisateur, gestionnaire, interlocuteur und conseiller zu beraten. Diese neue Rolle erfordert allerdings eine Öffnung seitens des Lehrers, dessen Hilfe nur in Anspruch genommen werden wird, wenn es ihm gelingt, sich von seiner reinen Funktionalität und damit Fremdheit zu lösen, um dem Lerner ganzheitlich mit seinen Fehlern, seinem Unmut und seinen Freuden gegenüberzutreten und wirkliches Interesse für dessen Selbstentfaltung zu entwickeln.

Die Erkenntnis und das Eingeständnis der eigenen Mängel sowie eine positive Pädagogik des Fehlers als produktiver und notwendiger Bestandteil eines individualisierten Lernprozesses öffnen den Unterricht in der Perspektive einer authentischen Lebensrealität, in der reale Bedürfnisse mit Lebensbewältigungsstrategien sinnvoll interagieren, um die Dichotomie von Schule und Wirklichkeit zu neutralisieren. Schulisches Lernen sollte niemals vertikal auf die Beherrschung von hierarchisiertem Wissen fokussiert sein, sondern auf eine spiralförmige Initiierung von methodischen, interkulturellen, sozialen und medialen Kompetenzen im Hinblick auf die strategische Entwicklung einer lebenslangen Lernkultur für Beruf und Alltag, unter der Prämisse, daß der Weg das Ziel ist. - Non scholae sed vitae discimus.
 

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