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Theorie und Praxis des Natural Approach in den 90er Jahren | ||||||||||||||||||||||||||
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Die Rolle der
kommunikativen Methode wird im Fremdsprachenunterricht der USA in den
neunziger Jahren hauptsächlich vom Natural Approach
eingenommen. Vor allem in Deutsch und Spanisch[1]
und vor allem an Colleges und Universitäten hat sich der Natural
Approach, der vor rund 18 Jahren von Tracy D. Terrell[2]
entwickelt wurde, durchgesetzt. Der rasche Aufstieg dieser Methode
trotz teils heftiger Kritik[3]
ist sicherlich mit darauf zurückzuführen, daß sie in den USA die
einzige weitverbreitete Methode war und ist, die ausdrücklich auf einer
Theorie des Spracherwerbs, dem Fünf-Hypothesen-Modell Krashens[4],
aufbaut.
Nach Richards und Rodgers[5] sind Sprachlehrmethoden auf drei Ebenen zu beschreiben: auf der Ebene ihres sprach- und lerntheoretischen Ansatzes (approach), ihres didaktisch-methodischen Konzepts (design) und ihrer unterrichtspraktischen Vorgehensweise (procedure). Der Ansatz liefert die sprach- und lerntheoretischen Grundlagen der Methode, wobei der sprachtheoretische Teil sich auf die Beschreibung dessen konzentriert, was gelernt werden soll, und der lerntheoretische Teil darauf, wie sich dieses "Was" lernen läßt. Das didaktisch-methodische Konzept bestimmt auf der Basis der sprach- und lerntheoretischen Grundlagen die Lehrinhalte (Didaktik) und die Lehr- und Lernverfahren (Methodik) und trifft damit Entscheidungen zu Lernzielen, Stoffauswahl und -gliederung, Lehr- und Lerntechniken, und den Rollen, die Lehrern, Lernern und Unterrichtsmaterialien zufallen. Die Vorgehensweise schließlich erfaßt die Unterrichtspraxis, also wie das didaktisch-methodische Konzept in die Tat umgesetzt wird, wie neue Inhalte eingeführt und eingeübt werden und ihre Aneignung überprüft wird.
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Abbildung 1: Richards
& Rodgers, 1984
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Das Charakteristische
am Natural Approach ist nun nicht die Unterrichtspraxis,
zumindest nicht in einer selbst für geschulte Beobachter auffälligen
Weise. Die Unterrichtsgestaltung erinnert sehr an die kommunikative
Methode und die verwendeten Lehr- und Lerntechniken sind aus mancherlei
kommunikativen und vorkommunikativen Methoden vertraut. Die
Eigenständigkeit des Natural Approach ist erst auf der Ebene
des didaktisch-methodischen Konzepts sichtbar, und zwar sowohl in dem, was
vermittelt wird (und vor allem auch in dem, was nicht vermittelt wird),
als auch in dem, wie dies geschieht. Dieses besondere Konzept
beruht auf seinem spezifischen Ansatz, und zwar insbesondere auf seinem
lerntheoretischen Ansatz, denn der sprachtheoretische Ansatz
unterscheidet sich kaum von der "pragmatischen Orientierung der
kommunikativen Methode, die Sprache als einen Aspekt menschlichen
Handelns und als einen Akt geistig-kreativer Tätigkeit sieht"[6].
Die lerntheoretische Grundlage des Natural Approach bildet
Stephen Krashens Fünf-Hypothesen-Modell[7].
Der vorliegende Artikel bietet einen Aufriß dieser fünf Hypothesen Krashens aus heutiger Sicht, geht dabei auf forschungstheoretische Ansätze und Ergebnisse der neunziger Jahre, die diese Hypothesen unterstützen, ein und legt dar, wie diese fünf Hypothesen das didaktisch-methodische Konzept des Natural Approach beeinflussen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf zwei Problemfelder gerichtet, deren Funktion und Rolle im Natural Approach der neunziger Jahren neu durchdacht und präzisiert wurden: 1. die Rolle der Grammatik, und 2. die Rolle der Produktion, d.h. die Rolle des kommunikativen Sprechens und Schreibens.
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Krashens Fünf-Hypothesen Modell | ||||||||||||||||||||||||||
Krashens Modell zum
Zweitsprachenerwerb beruht auf fünf Hypothesen: 1. der Hypothese, daß
es einen Unterschied gibt zwischen Grammatikerwerb und Grammatiklernen;
2. der Hypothese, daß Grammatikerwerb nur dann stattfindet, wenn die
Sprache zu kommunikativen Zwecken verwendet wird; 3. der Hypothese, daß
bewußt gelerntes, abstraktes grammatisches Wissen nur sekundär, als
Monitor, verwendet werden kann, und nicht primär zur Initiierung einer
Sprachhandlung; 4. der Hypothese, daß es beim Grammatikerwerb
natürliche Erwerbssequenzen gibt, die sich extern nicht oder nur schwer
beeinflussen lassen; und 5. der Hypothese, daß Grammatikerwerb am
besten in einer affektiv positiven, d.h. in einer "freundlichen,
aufgeräumten, menschlichen Unterrichtsatmosphäre"[8]
stattfindet.
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Abbildung 2: Krashen, 1985 | ||||||||||||||||||||||||||
Grammatikerwerb vs. Grammatiklernen | ||||||||||||||||||||||||||
Krashen unterscheidet
zwischen einem bewußten Grammatikwissen und einem unbewußtem
Grammatikkönnen. Grammatikwissen beruht seiner Meinung nach auf einem
Studium der abstrakten grammatischen Strukturen einer Sprache, wie sie
z.B. von Sprachwissenschaftlern beschrieben werden. Grammatikkönnen
beruht auf dem Agieren bzw. Funktionieren eines nach Chomsky dem
Menschen angeborenen Spracherwerbsmechanismus. Dieses Grammatikkönnen
ist mit der Sprachkompetenz linguistisch ungebildeter Muttersprachler
vergleichbar, die zwar wissen, wie man etwas richtig sagt, die aber
dafür meist keine linguistisch adäquaten sprachlichen Regeln bilden
können. Nach Krashen gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen
Grammatikwissen und Grammatikerwerb, d.h. angelerntes Grammatikwissen
hat keinen direkten Einfluß auf den Grammatikerwerb. Manche Menschen
können allerdings ihr Grammatikwissen verwenden, um ihre sprachliche
Produktion auf sprachliche Korrektheit hin zu überprüfen— besonders in
der schriftlichen Produktion—und gegebenenfalls zu verbessern.
Diese strenge Trennung zwischen einem dem Bewußtsein zugänglichen Grammatikwissen und einem dem Bewußtsein unzugänglichen Grammatikkönnen hat in den letzten Jahren erneut Zustimmung gefunden. Sharwood Smith[9] z.B. geht davon aus, daß Sprachgebrauch auf einem System von Wissensstrukturen basiert, das Sprachlerner unbewußt, rein auf der Basis von Input aufbauen. Wie Jackendoff[10] trennt Sharwood Smith streng zwischen den dem Bewußtsein unzugänglichen Prozessen, die Gedanken produzieren, und den Gedanken selbst. Er geht davon aus, daß alle Gehirnaktivität unbewußt abläuft. Das Gehirn setzt die verschiedensten Prozesse und Berechnungen in Gang, bewußt wahrgenommen wird allerdings nur das Ergebnis dieser Prozesse und Berechnungen. Zu diesen unbewußt ablaufenden Prozessen zählt Sharwood Smith auch die Anwendung grammatischer Regeln. Diese Regeln existieren darüber hinaus nur im Kopf und nicht in der Sprache. Sprachlerner ziehen keine Regeln aus dem Schallstrom oder der Abfolge der Schriftzeichen auf dem Papier, sondern internalisieren Sprachdaten, die dazu benutzt werden, ein Regelsystem aufzubauen, das in der Lage ist, diese Sprachdaten genauso oder zumindest so ähnlich wie möglich hervorzubringen. Sowohl das Regelsystem selbst als auch der Aufbau dieses Regelsystems ist unbewußt. Das Produkt dieses Regelsystems, der Schallstrom oder die Zeichen auf dem Papier sind dem Bewußtsein natürlich zugänglich und können metasprachlich erfaßt werden. Dieses metasprachliche Bewußtsein oder Grammatikwissen unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von dem vom Sprachenlerner nachgebauten grammatischen Regelsystem oder dem Grammatikkönnen. Schwartz[11] argumentiert ähnlich. Sie stützt sich in ihrer Arbeit auf Fodors[12] Theorie von der Modularität des Gehirns, der davon ausgeht, daß es bestimmte, autonom arbeitende und nur jeweils einer Art von Stimulus zugängliche Gehirnbereiche gibt, wie zum Beispiel das Sehmodul oder das Hörmodul, oder eben auch das Sprachmodul, welche ins Gehirn kommende Stimuli, d.h. Daten physikalischer Art, verarbeiten, analysieren und das Resultat dieser Analyse an das Bewußtsein, den Zentralprozessor, weiterleiten. Das Sprachmodul konstruiert die Grammatik einer Sprache aufgrund der nur ihm zugänglichen und von ihm verarbeitbaren sprachlichen Daten. Diese noch unverarbeiteten sprachlichen Daten nennt Schwartz Primärdaten. Zusätzliche Informationen kognitiver, dem Bewußtsein zugänglicher Art zu diesen Primärdaten, wie die Information darüber, wie etwas richtig gesagt wird, d.h. explizite Informationen, oder die Information darüber, daß etwas falsch gesagt wurde, d.h. negative Informationen, sind nur dem Bewußtsein, dem Zentralprozessor, zugänglich, nicht aber dem Sprachmodul. Das Sprachmodul allein bestimmt allerdings die grammatische Kompetenz eines Fremdsprachenlerners. Die sich entwickelnde grammatische Kompetenz, die Interimsprachen eines Lerners entwickeln sich nur aufgrund sprachlicher Primärdaten und nicht aufgrund bewußt wahrgenommener zusätzlicher Informationen zu diesen Primärdaten, d.h. nicht aufgrund von bewußt gelernten grammatischen Regeln. Bewußt gelernte grammatische Regeln, Grammatikwissen also, sind nur dem Zentralprozessor zugänglich und tragen nach Schwartz nichts zur grammatischen Kompetenz eines Fremdsprachensprechers bei.
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Abbildung 3:
Schwartz, 1993
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Diesen
lerntheoretischen Vorschlag, zwischen Grammatikwissen und -können zu
unterscheiden, macht sich der Natural Approach auf der Ebene
des Designs zu eigen. Da Grammatikwissen die grammatische Kompetenz
anscheinend nicht fördert, tritt das Vermitteln und Üben von
Grammatikwissen in den Hintergrund (verschwindet aber nicht ganz, wie
weiter unten zu sehen ist). Grammatikkönnen wiederum scheint nur in
echten kommunikativen Situationen, d.h. im Gespräch, beim Zuhören, beim
Lesen, erworben zu werden. Das Schaffen echter
Kommunikationsmöglich-keiten, sowohl mündlicher als auch schriftlicher
Art, steht im Natural Approach daher im Mittelpunkt des
Unterrichts.
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Input | ||||||||||||||||||||||||||
Nach Krashen wird die Grammatik
einer Sprache erworben, wenn sich Lerner mit dem sprachlichen Input
auseinandersetzen, d.h. wenn sie die Inhalte, die die Sprache
vermittelt, zu verstehen versuchen und auch verstehen. Spracherwerb
findet statt, wenn Gehörtes und Gelesenes verstanden wird, wenn sich
die Lerner auf die Bedeutung konzentrieren und dabei Form und Inhalt
erfolgreich miteinander kombinieren. Terrell[13]
ergänzt diese Hypothese, indem er postuliert, daß der Erwerbsprozeß
zwar beim verstehenden Hören und Lesen beginnt, daß er aber beim
kommunikativen Sprechen und Schreiben fortgeführt wird.
Diese Hypothese scheint die am wenigsten umstrittene zu sein. Sprachlicher Input ist sicherlich einer der Hauptmotoren des Spracherwerbs. Dieser Input muß zum einen verständlich sein, zum anderen aber sprachlich Neues enthalten, was erworben werden kann. Krashen behauptet, daß optimaler Input immer dann besteht, wenn Lehrer und Lerner miteinander kommunizieren und die Lerner verstehen, was gesagt wird. Sharwood Smith[14] jedoch ist der Ansicht, daß Input auf zweierlei Art verarbeitet werden kann: 1. um die Bedeutung des Gesprochenen oder Geschriebenen zu erfassen; 2. um die Bedeutung und die Form (zumindest Teile davon) zu erfassen. Nur wenn Bedeutung und Form gleichzeitig erfaßt werden—allerdings auch unbewußt, d.h. von Chomskys Spracherwerbsmechanismus oder von Fodors Sprachmodul—wird Sprache erworben. Sharwood Smith ist der Meinung, daß die Verarbeitung des Inputs auch, zumindest teilweise, gesteuert werden kann. In früheren Arbeiten nannte er es "Bewußtmachung" (consciousness raising), weil es sich darum handelt, etwas wahrzunehmen, worauf man sich normalerweise nicht bewußt konzentriert, nämlich die Form der Botschaft, d.h. die Grammatik. In seinen neusten Arbeiten nennt er es jetzt jedoch "Inputintensivierung" (input enhancement), weil er davon ausgeht, daß Lehrer zwar den Input, die sprachliche Eingabe manipulieren können, nicht jedoch den Spracherwerb der Lerner. Was Lerner produzieren können, hängt also davon ab, was sie verstehen können. Hörverständnis und Lesen sind damit primär. Spracherwerb findet statt, wenn Lerner sich auf die Bedeutung des Gesagten und Gelesenen konzentrieren und wenn die Form, die grammatische Struktur, als Schlüssel zum Inhalt gesehen und verstanden wird, und nicht als etwas, was zu lernen ist. Auch aus diesem Grunde steht daher im Natural Approach der Austausch von Informationen, Gedanken und Meinungen im Mittelpunkt aller Unterrichtsaktivitäten, Austausch zuerst im Sinne der Rezeption, des Verständnisses, dann allerdings auch im Sinne der Produktion, des Sprechens und Schreibens, welche den Spracherwerb fortführen.
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Monitor |
Nach Krashen ist Wissen über die
Sprache, d.h. abstraktes grammatisches Wissen in spontaner mündlicher
und schriftlicher Kommunikation nur beschränkt einsetzbar. Dieses
Wissen kann nur sekundär eingesetzt werden, d.h. erst wenn das
Sprachmodul oder der Sprachproduktionsmechanismus einen Satz oder einen
Text produziert hat, kann dieses Wissen dazu benutzt werden, diesen
Satz oder Text auf seine grammatische Richtigkeit hin zu überprüfen
und, falls nötig, zu korrigieren. Dazu müssen mindestens drei
Bedingungen erfüllt sein: 1. Der Sprecher oder die Sprecherin muß ein
Interesse daran haben, nicht nur verständlich, sondern auch grammatisch
richtig zu sprechen. Dieses Interesse scheint ein hohes Maß an
metasprachlichem Bewußtsein vorauszusetzen. 2. Der Sprecher oder die
Sprecherin braucht Zeit: Zeit, um den Satz oder Text zu überprüfen,
Zeit, um nach einer Regel zu suchen, Zeit, die Regel anzuwenden. Soviel
Zeit ist im Gespräch selten vorhanden, was meist dazu führt, daß
Fremdsprachensprecher Fehler machen oder verstummen. 3. Der Sprecher
oder die Sprecherin müssen wissen, welche Regel angewendet werden muß,
und müssen die Regel kennen. Wenn man bedenkt, wie umfangreich
Grammatikbücher sind, scheint dies selbst für sehr fortgeschrittene
Lerner kein leichtes Unterfangen zu sein.
Trotz seiner Beschränkungen spielt der Monitor im Natural Approach zwar nicht die dominierende Rolle vorkommunikativer Methoden, aber trotzdem eine nicht unwesentliche Rolle. Krashen und Terrell[15] schlagen vor, den Sprachunterricht zu mindestens 80% spracherwerbsorientierten Aktivitäten zu widmen und höchstens 20% dem Grammatiklernen und -üben. Ein wichtiger Punkt beim Monitoreinsatz ist dabei der Faktor Zeit. Sprachlerner haben oft nur im Schriftlichen wirklich genügend Zeit, ihren Monitor effektiv einzusetzen. Im mündlichen Bereich ist dies zumindest bei Anfängern, d.h. während der ersten 300 Stunden Sprachunterricht, wahrscheinlich nicht zu erwarten[16]. Man muß also davon ausgehen, daß im spontanen Gespräch Fehler gemacht werden. Darüber hinaus scheint mündliches mechanisches Einüben grammatischer Strukturen relativ ineffektiv zu sein und nur einen minimalen Effekt auf den Erwerb mündlicher Sprachkompetenz zu haben. Dem Natural Approach wird oft vorgeworfen[17], er würde dem grammatisch richtigen Sprechen und Schreiben keinen Wert beimessen. Das ist nicht richtig: grammatische Kompetenz als Teilziel kommunikativer Kompetenz[18] ist auch für den Natural Approach ein wichtiges Lernziel. Der große Unterschied zu anderen Methoden ist nicht das Ziel, sondern der Weg. Vertreter des Natural Approach bezweifeln die Richtigkeit der Annahme, daß grammatisches Wissen zu grammatisch richtigem Sprechen und Schreiben führt, und postulieren, daß der direkte Weg zum grammatisch richtigen Sprechen und Schreiben der ist, durch Anbieten rezeptiver und produktiver Kommunikationsmöglichkeiten Spracherwerb zu ermöglichen und zu fördern. Grammatische Richtigkeit im Sprechen scheint nicht so sehr eine Funktion des grammatischen Wissens zu sein, sondern eine Funktion der Intensität der Auseinandersetzung mit der Sprache in kommunikativen Kontexten, wobei es wichtig ist, daß die Form zusammen mit dem Inhalt aufgenommen und verarbeitet wird.
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Natürliche Erwerbssequenzen |
Die Forschung der letzten 10 bis
15 Jahre hat manches zu unserem Wissen über natürliche Erwerbssequenzen
beigetragen. Clahsen, Meisel, Pienemann u.a. haben in einer Reihe von
Studien gezeigt, daß die Wortstellung im Deutschen, insbesondere im
Hinblick auf das Verb, in immer der gleichen Reihenfolge erworben wird,
nämlich zuerst die Satzklammer, dann die Inversion, und zum Schluß die
Nebensatzstellung[19].
Das Interessante an diesen Erwerbsstudien ist dreierlei: 1. Es gibt
anscheinend Strukturen, die früh erworben werden, welche, die spät
erworben werden, und welche, die in einer bestimmten Reihenfolge
erworben werden müssen. 2. Die Reihenfolgen sind für viele Strukturen
unabhängig von der Muttersprache der Zweitsprachenlerner. 3. Auch der
Fremdsprachenunterricht kann diese Reihenfolgen nicht verändern[20].
Ein zweiter wichtiger Aspekt bei diesen Erwerbshierarchien ist die Erkenntnis, daß es anscheinend viel länger dauert, selbst elementare Grundstrukturen zu erwerben, als man gemeinhin annimmt. Im Rahmen der ACTFL oral proficiency guidelines[21] wurde z.B. festgestellt, daß es drei bis vier Studienjahre dauert, bis z.B. das Kasussystem oder das Tempussystem des Deutschen erworben ist, selbst dann oft nur, wenn sich darunter ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt befand[22]. Während der ersten zwei US-amerikanischen Collegejahre, das eigentliche Feld des Natural Approach, wird relativ wenig Grammatik erworben, darunter vor allem das Präsens, die Satzkongruenz und elementare Wortstellungsmuster wie die Satzklammer[23]. Die Tatsache, daß der Großteil der grammatischen Strukturen, die in den USA in den ersten zwei Collegejahren traditionell für produktive Zwecke eingeführt und eingeübt werden, nicht erwerbbar ist, ist natürlich ein weiterer Grund, die Grammatik weniger zu betonen. Diese Befreiung von der Grammatik ermöglicht es dem Natural Approach, andere Lernziele wie das Lernen von Lesestrategien, Konversationsstrategien, das Aneignen landeskundlichen Wissens und vor allem das Wortschatzlernen stärker zu betonen. Semantisches Lernen steht im Natural Approach ganz stark im Vordergrund, bis hin zu einem semantischen Lernen der Grammatik.
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Affektiver Filter |
Spracherwerb findet nach Krashen
in einer affektiv positiven, d.h. in einer freundlichen, aufgeräumten,
menschlichen Unterrichtsatmosphäre am besten statt. Natürlich!
Jegliches Lernen findet in einer affektiv positiven Atmosphäre besser
statt als in einer negativen. Das sollte eigentlich nichts Neues sein.
Es steckt jedoch noch etwas mehr hinter dieser Hypothese. Zum einen
scheint Spracherwerb nur dann stattzufinden, wenn sich Lerner aktiv und
mit persönlichem Interesse mit gehörter oder gelesener Sprache
auseinandersetzen, um ihr ihre Inhalte zu entlocken. Wenn
Grammatikerwerb nicht bewußt gesteuert werden kann, sondern nur
stattfindet, wenn Lerner den Schallwellen oder den Zeichen auf dem
Papier ihre Botschaft, ihren Inhalt entnehmen wollen, müssen diese
Inhalte so interessant sein oder so interessant aufbereitet werden, daß
das Interesse der Lerner nicht erlahmt und damit der
Spracherwerbsprozeß unterbrochen wird.
Gleichzeitig muß vermieden werden, daß Lerner aus Angst davor, Fehler zu machen und lächerlich zu klingen, vermeiden, neue Konstruktionen, neue Wörter auszuprobieren; denn nur im Ausprobieren wird der Erwerbsprozeß, der im Rezeptiven begonnen hat, weitergeführt ins Produktive und damit ins Detailiertere und ins Präzisere. Und Ausprobieren führt meist zwangsläufig zu Fehlern. Im Natural Approach wird daher großer Wert darauf gelegt, daß sich Lehrer und Lerner und ebenso die Lernenden untereinander möglichst schnell kennenlernen. Einander kennen schafft Vertrauen, und dies ist sehr wichtig dafür, daß sich Lerner zutrauen, trotz eindeutiger Schwächen und großer Schwierigkeiten von Beginn an miteinander zu sprechen. Um dieses Kennenlernen zu unterstützen, aber auch weil frühes Sprachlernen thematisch eher um das Ich kreist[24], sprechen die Lerner viel über sich selbst und stellen einander persönliche Fragen. Die neue Sprache wird also von vornherein als Kommunikationsmittel benutzt. Dieser persönliche Informations- und Erfahrungsaustausch schafft nicht nur Vertrauen, sondern motiviert auch, da Menschen im allgemeinen gern über sich selbst sprechen und ihren Mitmenschen oft eine natürliche Neugier entgegenbringen, eine Neugier ganz anderer Art als sie zum Beispiel Lehrbuchcharakteren entgegengebracht wird. Darüber hinaus beeinflußt diese Hypothese die Art und Weise, wie Fehler korrigiert werden. Vertreter des Natural Approach sind der Meinung, daß Fehler gemacht werden müssen, daß Studenten ermuntert werden müssen, ein sprachliches Risiko einzugehen und sprachlich Neues auszuprobieren. Es wird daher unterschieden zwischen Unterrichtsphasen, in denen ohne ausdrückliche Bitte um Korrektur niemand verbessert wird, und zwischen Phasen, in denen kommunikative Situationen vorbereitet oder nachbereitet werden und in denen Wert auf Richtigkeit im Ausdruck gelegt wird.
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Zur Rolle von Grammatik und Output |
Auch wenn man wie Krashen oder
wie Vertreter des Universalgrammatikansatzes (z.B. Schwartz) davon
ausgeht, daß Grammatikwissen und Grammatikkönnen unterschiedliche
Prozesse sind, und auch wenn man der Meinung ist, daß der traditionelle
Grammatikunterricht für die meisten Lerner und auf den meisten
Lernniveaus wahrscheinlich wenig zum Fremdsprachenlernen beiträgt, muß
man dennoch die Rolle des Grammatikwissens etwas differenzierter
betrachten, als dies bisher oft geschehen ist.
Als erstes muß man sicherlich zwischen einer Rezeptionsgrammatik, einer Verständnisgrammatik oder Analysegrammatik[25], und einer Produktionsgrammatik unterscheiden. Das Strategietraining, z.B. zur Entwicklung von Lesestrategien, hat in den letzten Jahren einen Stammplatz im Fremdsprachenunterricht eingenommen, und dazu gehört sicherlich auch die Mitbenutzung grammatischer Informationen zur Erschließung gesprochener und geschriebener Texte. Daß diese grammatischen Informationen nicht überbetont werden sollten und vor allem daß sie nur von eigentlichen Texten ausgehen sollten—d.h. nicht wieder ein Grammatikunterricht im luftleeren Raum—versteht sich sicherlich von selbst. Als zweites muß man zwischen einzelnen Sprachniveaus unterscheiden, sowohl bei der rezeptiven Grammatik als auch und besonders bei der produktiven Grammatik. Manche Grammatikaspekte sind eben erst auf der Mittelstufe oder vielleicht sogar auf der Oberstufe erwerbbar, und es macht wenig Sinn, sie bereits im Anfängerunterricht einzuführen. Das Wissen, was auf welchen Niveaus erworben wird, ist nach wie vor begrenzt, aber bei weitem nicht mehr so begrenzt, wie der Stand vieler Prüfungen und Lehrwerke vermuten läßt. Wichtige Einblicke hinsichtlich der Entwicklung mündlicher Sprachkompetenz scheinen hier, neben der Interimsprachenforschung, der Erforschung der Lernersprachen und ihrer Gesetzmäßigkeiten, besonders die ACTFL oral proficiency guidelines[26] zu vermitteln. Als drittes muß man sich klar darüber werden, was Lerner dazu bringt, grammatisch richtig zu sprechen: das Üben grammatisch richtiger Sätze oder das Wissen darüber, wie grammatisch richtige Sätze auszusehen haben. Beim Üben der Sätze wäre es auch sicher nützlich zu wissen, ob ein Üben mechanischer Art etwas bewirkt oder ob es sich dabei um ein kommunikatives Üben handeln muß. Vertreter des Natural Approach sind der Meinung, daß im Anfängerunterricht nur das Üben in kommunikativen Kontexten letztendlich sinnvoll ist. Weder das Grammatikwissen noch ein rein mechanisches Üben im sprachleeren Raum trägt etwas Wesentliches zum Spracherwerb bei. Man sollte dabei aber zwischen einem mechanischen Üben im sprachleeren Raum und einem mechanischen Üben zur Vorbereitung auf eine unmittelbar darauf folgende kommunikative Situation unterscheiden, wobei letzteres im Sinne von Sharwood Smiths input enhancement[27] durchaus einen positiven Einfluß auf den Spracherwerbsprozeß haben kann. Darüber hinaus gibt es immer wieder Sprachlerner, die—ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier bedeutungslos—fest daran glauben, daß Grammatikwissen nützlich und wichtig ist, und man sollte daher im Sinne einer affektiv positiven Lernatmosphäre auch Grammatikerklärungen und Sübungen im Unterricht einsetzen. Wenn dieses Grammatikwissen aber weder geprüft wird, noch man sich von ihm eine große Wirkung verspricht, dürfte die Gefahr, daß dieser Grammatikunterricht auf Kosten des Spracherwerbs geht, gering sein. Als viertes muß man m.E. letztendlich doch zwischen Erworbenem und Gelerntem (Monitor) unterscheiden, ob man nun der Meinung ist, daß ein Austausch und Übergang von Gelerntem zum Erworbenen existiert oder nicht. Interessant hier wäre dann festzustellen, wie diese Interaktion zwischen Gelerntem und Erworbenem stattfindet und, falls es keine Interaktion gibt, wie einsetzbar der Monitor, d.h. das Gelernte, auf den einzelnen Erwerbsstufen ist. Anfänger scheinen den Monitor in spontanen Äußerungen nur sehr begrenzt einsetzen zu können, oder anders ausgedrückt, scheinen nur relativ wenige Regeln in spontanen mündlichen Äußerungen anwenden zu können, zum einen, weil Lerner auf diesem Sprachniveau wahrscheinlich nur mit den einfachsten Regeln etwas anfangen können, zum anderen, weil das Arbeitsgedächtnis dieser Lerner sowieso permanent überfordert ist, d.h. gar kein Platz zum Überprüfen und Verbessern von Äußerungen vorhanden ist. Auf den höheren Stufen allerdings scheint man den Monitor sicherlich im Schriftlichen, aber auch im Mündlichen, anscheinend sehr positiv und sehr effektiv einsetzen zu können. Schwartz[28] z.B. geht davon aus, daß bestimmte Zielsprachen von Sprechern bestimmter Muttersprachen nicht vollständig erwerbbar sind, da die für einen Erwerb notwendige Umstellung gewisser Parameter der Universalgrammatik aus sprachtypologischen Gründen nicht stattfinden kann. Der Anschein von Zweisprachigkeit wäre dann nur über einen hervorragend funktionierenden Monitor zu erreichen. Als fünftes und letztes muß man sich über die Rolle des Inputs klarer werden, insbesondere darüber, welche Rolle grammatisch falscher Input dabei spielt. Wong-Fillmore spricht hier in Anlehnung an Junkfood von Junkdaten (junky data) und fragt sich, was wohl unser Spracherwerbsmechanismus mit solchen fehlerhaften Daten macht, ob er z.B. zwischen fehlerhaften und fehlerlosen Daten unterscheiden kann. Man sollte hier wohl noch weiterdifferenzieren und zwischen erwerbsimmanenten Fehlern, d.h. Fehlern, die auf einem bestimmten Interimsprachenniveau unvermeidbar sind, die allerdings, sobald das nächsthöhere Niveau erreicht wird, wieder von selbst verschwinden, und erwerbsunabhängigen Fehlern, die sich festsetzen und nach einer Weile nur noch schwer wieder verlernt werden, unterscheiden. Es wäre interessant zu wissen, wie schnell grammatisches Können im Anfängerunterricht erworben wird. Krashen[29] geht von einer S-ähnlichen Erwerbskurve aus, die bei Anfängern nur ganz schwach und nur ganz allmählich ansteigt, in der Mittelstufe ganz steil ansteigt und große Fortschritte macht, und in der Oberstufe wieder nur ganz allmählich sich dem Muttersprachenniveau nähert.
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Abbildung 4: Krashen, 1994 |
Der Natural Approach geht daher für produktive Zwecke im Anfängerunterricht von einem überwiegend semantischen Lernen aus, wobei neben dem Anbieten von mündlichem und schriftlichem Input (Hörverständnis und Leseverständnis) Wortschatz und semantisierte Grammatik im Mittelpunkt des Sprachunterrichts stehen. Um zu vermeiden, daß Fehler, die beim entdeckenden Lernen notwendigerweise auftauchen, als Junkdaten erworben werden, enthalten alle Unterrichtsaktivitäten kommunikativer Art, neben einer Reihe offener, die Lerner zum persönlich-kreativen Umgang mit Sprache nötigenden Phasen, geschlossene Phasen, in denen dieser kreative Umgang vorbereitet und dann auch nachbereitet wird, um die Angemessenheit der zu erwerbenden Sprache zu wahren und das Auftauchen von Junkdaten einzuschränken. |
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Natural Approach vs. kommunikative Methode |
Gemeinsam scheinen dem Natural
Approach und der kommunikativen Methode die nach Neuner[30]
pädagogische Orientierung, d.h. die Hinwendung zum Lernenden und zur
Lernperspektive, und die pragmatische Orientierung, unter der Sprache
als ein Aspekt menschlichen Handelns und als ein Akt geistig-kreativer
Tätigkeit gesehen wird, zu sein. Nach Westhoff[31]
fehlt allerdings der kommunikativen Methode der
spracherwerbstheoretische Ansatz. Seiner Meinung nach hat sie zwar
einen fundierten und sehr gediegenen sprachtheoretischen Ansatz, bietet
aber kaum Sinnzusammenhänge, kaum Theorien oder Hypothesen dazu, wie
Fremdsprachen erworben werden. Dieses Fehlen einer Lerntheorie führt
nach Westhoff zum Methodenpluralismus und damit zur Krise der Didaktik.
Dies ist durchaus vergleichbar mit der Situation der Fremdsprachendidaktik in den USA, in der die Methodendiskussion seit rund 15 Jahren vom Zauberwort proficiency (kommunikative Kompetenz) geprägt ist[32]. Da sich allerdings die Geister scheiden, wie man zu diesem Endziel kommunikative Kompetenz kommt, lebt die Methodenvielfalt der 70-er Jahre weiter, die eklektisch ihre Lehr- und Lerntechniken zusammenwürfelt, wie es dem individuellen Lehrer, der individuellen Lehrbuchautorin sinnvoll erscheint. Inwiefern der neue Ansatz der interkulturellen Kommunikation[33] daran etwas ändert, bleibt noch abzuwarten. Es besteht immer die Gefahr, daß einfach ein weiterer Beschreibungskatalog hinzugefügt wird, der das Endprodukt, das, was mehrsprachige Menschen können und wissen, zwar genauer beschreibt, aber nicht den Prozeß, der dahinführt, oder falls dieser Prozeß beschrieben wird, dies nur aus einem pädagogischen Blickwinkel geschieht, so wie er ablaufen soll, aber nicht aus einem entwicklungspsychologischen, so nämlich, wie er in Wirklichkeit abläuft. Man kann Krashens Modell des Zweitspracherwerbs kritisieren, wie man will, feststeht, daß es sich hier um ein theoretisches Modell handelt, das zumindest teilweise verifizierbar oder falsifizierbar ist, das neuen Erkenntnissen Rechnung trägt und sich aufgrund neuer Erkenntnisse präzisiert oder bei Bedarf ändert. Der Sprachunterricht braucht ein theoretisches Modell des Spracherwerbs, vielleicht nicht unbedingt das von Krashen, aber doch eines, das in sich konsistent ist, und das in der Fachliteratur diskutiert wird, wie es mit Krashens Modell seit knapp 20 Jahren geschieht.
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Anmerkungen |